Gerald Ganglbauer – Schreiben am Netz

Die Büchersendung aus Innsbruck kam mit einem gelben Kleber über der Verschlußlasche zu meiner PO Box in Strawberry Hills: “Von der Australischen Post zur Kontrolle der Quarantäne geöffnet.” Seit dem 11. September 2001 wird nun auch ‘Snail Mail’ auf Viren geprüft. Beruhigend oder seltsam – jedenfalls aber eine interessante Beobachtung, wenn eine Neuerscheinung ankommt, die sich die Frage stellt: “Welche Bedingungen erwartet die Literatur im digitalen Zeitalter?”

Ganglbauer über Johannes Fehr, Walter Grond (Hrsg.)
Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter.
Haymon Verlag, Innsbruck 2003

Literatur im digitalen Zeitalter

CoverDer Inhalt des Paketes: zwei schlichte weisse Bände im Schuber; mit zusammen rund 450 Seiten die Dokumentation eines Labor – Salon – Symposiums am Collegium Helveticum der ETH Zürich, sowie eine überarbeitete Chronik Walter Gronds, die in einer wöchentlichen NZZ-Kolumne veröffentlicht war. Grond, der seit dem Ausscheiden aus dem Grazer Forum Stadtpark in einem 400-Seelen-Dorf in Niederösterreich als Romancier und Essayist lebt, war von Fehr, dem stellvertretenden Leiter des Collegium Helveticum, im Frühjahr 2002 als ‘Writer in Residence’ nach Zürich geladen, “um gemeinsam mit anderen über das ‘Schreiben am Netz’ nachzudenken”.

Dieser literarische Salon im Internet versammelt einen Kreis, der dem Rezensenten (trotz fünfzehnjähriger Abwesenheit) real oder virtuell mehr oder weniger bekannt ist: Literaturwissenschafter, Autoren, Verleger, Kommunikationswissenschafter und Netzwerker von Susanne Berkenheger über Christian Eigner zu Klaus Zeyringer, um nur einige zu nennen. Der Rezensent hat ja, wie Grond, denselben Background: “Mitte der neunziger Jahre, als ich mit Dzevad Karahasan über Literatur zu diskutieren begann, rückten mit der Schaffung des World Wide Web die Kulturtechniken, die mit dem Computer verbunden sind, ins öffentliche Bewußtsein. […] Ich kommuniziere mit Menschen, nicht mit Maschinen. Und doch, die digitale Kommunikation bringt manches ins Wanken, was ich bisher für unzweifelhaft empfand.” Grond in: Die Chronik, S. 26-27.

Jene seit Jahren vertrauten Erfahrungen, die dem digitalen Zeitalter so eigen sind, bilden auch das Gerüst der Aufsätze, die eine interessante Dokumentation abgeben: “Wer viel Netzalltag erlebt, dem scheint nicht selten die Zumutung, die die Netzliteratur darstellt, die Zumutung des Netzalltages zu reflektieren. […] Der denkt: Ja genau, so ist es, das Leben im Netz – und er schaut in die Netzliteratur wie in einen Spiegel.” Berkenheger in: Das Symposium, S. 195-196. Andererseits: “Die Szene der digitalen Literatur und der Literaturbetrieb sind nach wie vor völlig getrennte Welten mit sehr wenigen Grenzgängern.” Beat Suter in: Das Symposium, S. 149. Alles in allem 24 Beiträge.

Und das Resümee? “Das Hinübergleiten – vom Labor und Salon im Internet zum Symposium in der Sternwarte zur Dokumentation im Buch – ist relativierendes Verfahren. Der Gewinn war vor allem Erfahrung. Konfusion auf einem höheren Level.” sagt Grond. Na ja, Fehr versichert: “Die im Rahmen von ‘Schreiben am Netz’ entstandenen Seiten bleiben zwar weiterhin über das Web zugänglich, aber in einer Form, in der nicht mehr daran weitergeschrieben werden kann: als Dokumentation und Archiv eines transdisziplinären Experiments”: http://www.collegium.ethz.ch/schreiben-am-netz/index.de.html

Für all jene, deren Alltag aus Schreiben besteht, ist ‘Schreiben am Netz’ wichtig, denn niemand kann sich dem Netz in unserem globalen Dorf heutzutage gänzlich entziehen.

Sydney, am 9. April 2003

William Ricketts

Zurück zur Natur – Back to Nature

Im subtropischen Regenwald Australiens lebte und arbeitete ein weißer Keramiker und Bildhauer, der sich vom Aborigine-Stamm der Pitjantjatjara adoptiert fühlte, ganz allein für die Rückbesinnung auf die Natur. Ich habe ihn 1989, im ersten Jahr in meiner neuen Heimat, in seiner Einsiedelei besucht.

Es ist so dunkel unter dem Blätterdach,
dass ein Kodachrome 64 der falsche Film ist.

The William Ricketts Sanctuary | © 1989 Gerald Ganglbauer

Unser Holden parkt als einziges Fahrzeug auf einem kleinen Parkplatz abseits der Seitenstraße, die Luft ist kühl und feucht im australischen Herbst, überhaupt hier im Süden Victorias, am 633 Meter hohen Mount Dandenong, knapp eine Autostunde von Melbourne entfernt. Freunde haben mich hierher gebracht, ohne mir viel über jenen Einsiedler zu erzählen, der hier unter meterhohen dunkelgrünen Farnen lebt: William Ricketts. Ein Bildhauer sei er, und ein Philosoph – du wirst schon sehen.

Über eine schmale Treppe gelangen wir wieder zur Mount Dandenong Tourist Road. Dort steht nur eine schlichte Tafel: The William Ricketts Sanctuary. Trotz des Wochenendes sind wir die einzigen Besucher, die Tickets bei der älteren Dame im Sales Office hinter dem Tor lösen.

Einige Farbpostkarten und ein Katalog zeigen verblasste Arbeiten des Künstlers, aber ich vertraue lieber meinen Kameraobjektiven und steige den dunkelgrün umwachsenen Weg zu seiner Zufluchtsstätte zügig bergan.

Es ist sehr düster unter den Eukalyptusbäumen und Farnen, ohne Blitzgerät ist mit dem lichtschwachen Film wenig zu machen, als nach wenigen Metern der Weg von zwei Felsbrocken verengt wird. Doch nein, näher betrachtet wachsen daraus Menschengestalten hervor, auf geheimnisvolle Weise verbunden mit dem Gestein, weise Gesichter von Aborigines, jenen Stone-Age-People, die schon vor 40.000 Jahren diesen Kontinent bewohnten. Faszinierend lebensecht wirken diese Gestalten, eins mit der sie umgebenden Natur. Er hat zwar keine Kunstakademie besucht, aber das handwerkliche Können dieses Mannes beeindruckt. Und das mit über 90 verstreuten Skulpturen.

Dann folgt eine Entdeckung auf die andere. Das Auge erfasst im grünlichen Zwielicht immer neue, in die Natur eingearbeitete Skulpturen, Wesen, die ihr zugehören, aber Realität und Fantasie vermischen. Der Körper eines Kängurus mit den Beinen eines Emus und dem Kopf eines weißen Mannes. Oder ein alter Aborigine mit Engelsflügeln, oder eine Kreuzigungsgruppe, die sicherlich keiner biblischen Vorlage entspricht. Auf den wenigen hundert Meter langen Wegen wähnt man sich in einer Jahrtausende alten Fabellandschaft, die Materialien Stein und Holz vereinigen sich derart mit der lebendigen Umwelt und dem Wasser, dass man meint, sie müssten schon seit ewigen Zeiten hier stehen. Eine starke Kraft geht aus von diesem Waldstück.

Und das ist es auch, worauf es Ricketts ankommt, den ich später im Innersten seiner Klause treffe, gerade in ein Gespräch mit einem japanischen Gast über den brasilianischen Regenwald vertieft.

Ein spröder alter Mann, aus dessen Augen es funkelt, wenn es um seine, nein, unsere Welt geht. Er hat viel gelernt in seinem Leben, was er auch in seine Arbeit einbringt: Spiritualität. „Einem Aborigine würde es nie eingefallen sein, die Erde auf und von der er lebt, zu zerstören“ sagt er, „der weiße Mann tut es. Damit er sich wieder seiner Natur besinnt, dafür arbeite ich.“ Er sagt nicht, dafür kämpfe ich, aber es hat dieselbe Stärke. Er muss wohl in den siebziger Jahren, als er drei Jahre in Indien im Sri Aurobindo Ashram in Pondicherry arbeitete, tief beindruckt gewesen sein von der heiligen Spiritualität und der Weisheit der Veden. Prime Minister Mrs. Gandhi hat ihm persönlich von dieser größten und mit 35.000 Jahren beinahe schon ewigen Weisheit erzählt.

In William Ricketts haben sich diese Stränge verknüpft mit der Geschichte der Aborigines, den Weisen seines Landes. „Als der weiße Mann vor 200 Jahren in Australien gelandet ist, hätte dies der Zeitpunkt sein können, in Verbindung mit Aborigines sowohl spirituelle Evolution als auch kulturellen Fortschritt zu erfahren … aber zu diesem Zeitpunkt haben denkende und sprechende Kreaturen Australien mit Gewehren überrannt.“

Mögen seine Aussagen auch von einer für Menschen aus der westlichen Kultur nicht immer leicht nachvollziehbaren Vergeistigung sein, so hat sein grüner Aktivismus doch einen glasklaren politischen Charakter: Er verfasste zahlreiche Aufrufe und Petitionen, die weit über die Küstenlinie Australiens hinausreichten, nämlich mit dem Wahnsinn aufzuhören, der an unserer Umwelt verbrochen wird. Er rief dazu auf, die Verbindung zur Erde wieder zu suchen, auf der wir alle Leben, und „in deren heiligen Boden wahre Religion tief gesät ist.“ Jener ganz einfache Glaube, der Geist, Mensch und Natur als Gesamtheit sieht. Eine Einsicht, nach der menschliches Wissen immer schon gesucht hat und wohl auch noch lange wird suchen müssen, im „Königreich der Natur, Pmara Kutata“. Der zum Zeitpunkt meines Besuchs bereits 91-jährige Künstler ging zwar am Stock, machte aber keinen gebrechlichen Eindruck.

Wenngleich die Stimme William Ricketts vier Jahre später verstummte, so ist garantiert, dass seine Arbeit der Nachwelt erhalten bleibt. Der Victorian Conservation Trust hat sich dieser heiligen Stätte verpflichtet.

Melbourne, am 16. Mai 1989 (Text und Fotos)
Diapositive publiziert in Graz, am 8. Jänner 2013