Ekaterina Degot

Eröffnungsrede zum steirischen herbst ’18

Europaplatz Graz, 20.9.18

steirischer herbst
20.9.–14.10.18

Ekaterina Degot © steirischer herbst

Der Platz, auf dem wir uns heute versammeln, heißt Europaplatz. Manche von Ihnen wissen das vielleicht gar nicht, denn dies ist offenkundig und unverkennbar ein Bahnhofsplatz. Genau so hieß dieser Platz auch, bevor er 1972 voller Stolz zum Europaplatz aufgewertet wurde. 1972 war ein Jahr des Optimismus, denn in der Politik gab mit Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky ein starkes sozialdemokratisches Trio den Ton an. 1972 war ein gutes Jahr für das europäische Projekt.

Tatsächlich gibt es viele Europaplätze in Europa, die seltsamerweise oft an Bahnhöfen liegen, als befinde sich Europa stets anderswo und immer mindestens eine Zugreise weit entfernt. Nicht anders ist es in Berlin und Wien. Europaplätze sind in der Regel Nicht-Orte. Man kann ihren Namen kaum behalten und sie nicht einmal als Plätze im Gedächtnis bewahren. Sie sind Übergangszonen, Rundkurse der Migration, Rennbahnen für Aufbrechende und Neuankömmlinge, Heimat der Vertriebenen und von sich selbst Entrückten, sowie der Heimwehkranken und der Obdachlosen.

Als ich eingeladen wurde, den steirischen herbst zu leiten, und im vergangenen Jahr in dieser Funktion erstmals nach Graz kam, war ich mir schon im allerersten Augenblick sicher, dass das Festival nirgendwo anders beginnen kann als hier – im öffentlichen Raum und in einem Teil der Stadt, der einstweilen noch nicht zu ihrer bevorzugten Lage gehört. Ich wollte, dass wir den Anfang in diesem Durchgangsraum machen, dass wir uns versammeln, wo Einheimische und Außenseiter, Österreicherinnen und Österreicher und Fremde durcheinanderströmen und allesamt einer Unbeständigkeit anheimfallen, die für so manche ein Dauerzustand ist.

Während diese Rede in den vergangenen Tagen allmählich in meinem Kopf Gestalt annahm, suchte ich nach einem Anfang jedoch lange Zeit vergeblich. Ich fragte mich, wen ich eigentlich ansprechen wollte. Sollte ich mich an die „lieben Besucherinnen und Besucher des Festivals“, an meine „lieben Freunde und Kolleginnen“ oder gar an die „geschätzten Pressevertreter, Sponsorinnen und Unterstützer“ wenden? Sollte ich außerdem noch – oder stattdessen – versuchen, die Aufmerksamkeit zufälliger Passanten auf diesem Bahnhofsvorplatz zu gewinnen? Dieser Vorbeieilenden, die uns auf dem täglichen Weg von oder zu ihrem harten Tagwerk mitsamt ihrem schweren Gepäck anrempeln?

Sie erraten es schon: Mir geht es um diese Passanten. Denn auch wir selbst gehören schon zu ihnen und sind nicht mehr nur „liebe Besucherinnen“ oder „werte Gäste“, sobald wir uns dem Umzug der großartigen, furchtlosen Künstlergruppe Bread & Puppet Theater anschließen. Wir werden der mitreißenden Gewalt der Kunst erliegen und dem Vertrauen in unser eigenes besseres Selbst nachgeben, dem sich diese Gruppe verpflichtet weiß. Wir können nicht die „lieben Zuschauer“ sein und in dieser passiven Rolle verharren. Wir werden selbst zu einem Teil des Kunstwerks und verleihen ihm mit unserem eigenen Körper Gestalt.

Passantinnen und Passanten also. Aber wie soll ich diese, Sie, uns alle ansprechen? Doch nicht mit „Meine Damen und Herren“, und auch nicht als „liebe Freunde und Kolleginnen“, denn noch während ich das murmele, sind sie alle längst auf und davon.

Es gibt eine überall anerkannte Form der Ansprache, die mir in dieser Situation angemessen erscheint: „Verzeihung, dürfte ich Sie etwas fragen?“ – „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo die Straßenbahnhaltestelle ist?“ – „Verzeihung, interessieren Sie sich für zeitgenössische Kunst?“ – „Entschuldigung, sind Sie für Einwanderung oder dagegen?“ – „Gestatten Sie eine Frage: Horten Sie Nazi-Devotionalien in Ihrer Wohnung?“ – „Verzeihung, sind Sie einverstanden mit dem Spruch ‚Tod dem Faschismus, Freiheit für das Volk!‘?“ – „Entschuldigung, sind Sie für Conchita oder für Gabalier?“

Solche Fragen werden wir Ihnen im Verlauf dieses Festivals stellen. Also verzeihen Sie mir bitte, falls und dass ich Sie anspreche. Bekanntlich soll man heute schriftlich um Erlaubnis fragen, bevor man jemanden anruft. In diesem Sinn bitte ich hiermit um Ihre Erlaubnis, mich direkt an Sie zu wenden: jetzt und in den kommenden Jahren, in der aktuellen und in künftigen Ausgaben des steirischen herbst. Wir wollen mit Ihnen reden über das, was für uns alle von Bedeutung ist. Wir wollen Sie – und das ist Teil des Spiels – in die prekäre Lage bringen, sich vielleicht von uns gestört zu fühlen.

Zugegeben: Es kann sehr lästig sein, wenn man von jemandem angesprochen wird. Ich bin die erste, die ihre Ruhe braucht und in Frieden gelassen werden will. Mir ist auch klar, dass Kunst stören und manchmal unerfreulich sein kann. Aber genau so soll Kunst eigentlich sein. Sie sollte unsere Überzeugungen erschüttern und eine andere Sicht auf die Dinge unterbreiten. Sie sollte zerstörend Neues schaffen. Manchmal, wenn wir Glück haben, geht sie dabei so weit, dass unser Leben hinterher nicht mehr dasselbe ist.

Hier setzt der neue steirische herbst an. Er nennt sich Volksfronten und handelt von den politischen Widersprüchen und Gegensätzen unserer Zeit. Wir alle sind Tag für Tag und in jedem Augenblick darin verstrickt. Die Widersprüche und Gegensätze sind gesellschaftlicher Art. Sie haben mit Ungleichheit und vorenthaltenen Lebenschancen zu tun. Sie brüten und nähren die Würmer des Faschismus. Unterdessen geraten wir auf eine falsche Fährte. Man erzählt uns, dass es in diesen Gegensätzen und Kämpfen um Kulturen, Religionen oder Rassen gehe, dass sie den geschniegelten und gebügelten, überkommenen Identitäten unserer Vorfahren und ihrer angeblichen Unvereinbarkeit mit den geringfügig anders geschneiderten Identitäten gewisser anderer entspringen.

Das ist nicht wahr, und es hindert uns, gemeinsame Sache zu machen. Dieser Verhinderung wollen wir mit dem Begriff Volksfronten unter Einbeziehung des darin mitschwingenden Unbehagens entgegentreten. Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Nicht einfach sind die reichhaltigen, komplexen, vielschichtigen künstlerischen Gesten, die daran anknüpfen – die Projekte, Performances, Installationen und philosophischen Debatten. Wir hoffen, dass Sie sich Zeit für sie alle nehmen werden. Seien Sie mit uns in diesen drei leidenschaftlichen Wochen! Wir hoffen, uns in den kommenden Jahren mit Ihnen auf viele weitere geistige Wagnisse einzulassen.

Laibach’s Sound of Music

Foto: Laibach, Cover: Poster für Laibach’s Sound of Music, 2018, Design: Metastazis

Der steirische herbst slowenische herbst ’18 eröffnet Volksfronten mit Laibachs Version eines der weltweit erfolgreichsten Filme, den hierzulande keiner kennt. Aber morgen wird sich das geändert haben.

Morgen geht nämlich alle anders als sonst los: die Eröffnungsrede von Ekaterina Degot gibts um 17:00 am Europaplatz vor dem Grazer Hauptbahnhof. Danach zieht die Underneath the Above Parade #1 des Bread & Puppet Theater durch die Keplerstraße in die Innenstadt bis zum Mariahilferplatz. Bin neugierig, ob das barrierefrei mit dem Rollstuhl zu schaffen ist.

Der Eröffnungstag wird schließlich mit Laibach’s Sound of Music gekrönt. Beginn ist pünktlich um 21:00 auf der Kasemattenbühne. Hier ein Sound Sample, „Spectre“ (2014) auf Spotify.

Im Ausland bin ich immer wieder darauf angesprochen worden, also musste ich mir den Film natürlich selbst ansehen und bin sehr gespannt, wie Laibach ihn umsetzt. Brachial, kitschig und laut, nehme ich an.

Singen wir mit der Trapp Family „Climb every mountain …“

Stattegg-Ursprung, am 19. September 2019

Eröffnungstag steirischer herbst ’18

Laibachs Sound ist unverkennbar, deren politische Botschaft verschwommen

Wer sich auf den Weg machte, um etwas über „The Sound of Music“ in den Kasematten zu lernen, musste sich zwei Stunden später so klug wie zuvor an den Abstieg vom  Schlossberg machen. Vielleicht konnte man sich über den Film mit den zwei Erzählebenen, der Geschichte der Salzburger Familie Trapp und ihrer Flucht in die USA, sowie unterschwelligem Faschismus in Österreich auf der Party danach im Dom Im Berg mit den Musikern unterhalten, sofern sie ihn überhaupt gesehen hatten. Fakt ist: Laibach’s Sound of Music war bloss eine unterhaltsame Musikrevue, der ihre umstrittene Beschäftigung mit Heimat, Nationalsozialismus und Faschismus zugrunde gelegen hat, bevor sie eine Produktion für Korea als „zensurierte“ Auftragsarbeit für den steirischen herbst adaptierten und noch ein paar oberflächliche und unaufällige Referenzen zum „österreichischen“ Hollywood-Film hinterlegten.

Seit ich die Band vor mehr als zwanzig Jahren bei den Wiener Festwochen gesehen hatte, war die Fliegermütze Markenzeichen des Frontmannes mit der Grabesstimme. Bekannt wurden die Mannen aus Ljubljana mit einem Cover von „Live is Life“, dessen Video im Stil der Hitler-Jugend gedreht war. Meiner Meinung nach war ihr Umgang mit Relikten aus der Nazi-Ära oft ein Grenzgang. Allerdings es ist auch ein Privileg der Kunst, zu verunsichern. Hier waren sie alle nett gekleidet und das Zusammenspiel der Stimmen von Boris Benko und Marina Mårtensson klang überzeugend froh und ergänzte sich gut durch die tief eingeworfenen Laute von  Milan Fras. Irgendwann klang es abgelutscht, denn 90 Minuten wurden lang und es wurde zu kalt in den Kasematten. Das letzte Werk, „Also sprach Zarathustra“ (2016), konnte mich noch von der Retroavantgarde der Band überzeugen, diese seichte Revue nicht.

Es sagt ja auch niemand, dass die gestrige Aufführung zur Eröffnung des steirischen herbst ’18 samt Streichorchester und Kinderchor tatsächlich an eine Umsetzung der Handlung des Films gebunden war. Dieser Gedanke entsprang nur meiner Erwartungshaltung, weil ich im Ausland vielfach darauf angesprochen wurde und eine Auseinandersetzung der Inlandsösterreicher mit dem Thema überfällig war. Fakt ist, dass vor den musikalischen Szenen eine Präambel verlesen wurde, worin heftige Kritik an Österreichs blau-schwarzer Politik und somit an den Österreicherinnen und Österreichern geübt wurde, die sie gewählt haben. Das vorweg gesagte wurde zwar wieder entschärft, indem es der Philosoph Slavoj Žižek in seiner „Predikt“ als Fiktion ausgab, aber die klare politische Haltung änderte nicht einmal sein philosophischer Exkurs über die Liebe. Die bunten Visuals, von kitschigem Cliché bis militaristischer Ikonografie aus Korea passten farblich gut in die Kasemattenbühne. Ein letzte Referenz auf die Freilichtbühne der Salzburger Festspiele.

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Mit dem Rollstuhl zum Konzert zu gelangen, war eine andere Sache – eine Herausforderung der besonderen Art. Ein erster Versuch mit dem Auto auf den Berg zu fahren musste abgebrochen werden, weil die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt war. Der Lift war ebenso außer Betrieb. Ein Anlauf mit der Schlossbergbahn war schließlich erfolgreich. Die Bahn hat auf beiden Stationen einen Treppenlift und freundliches Personal. Von der Bahn bis zum Eingang ist der Weg für Rollstühle allerdings ein Wahnsinn. Die tiefen großen Kopfsteine mögen zwar gut aussehen, sind aber unüberwindbar, weshalb ich auf Krücken hüpfen musste. Wenn man selbst Betroffen ist, wird einem Barrierefreiheit plötzlich zu einem enorm wichtigen Begriff.

Stattegg-Ursprung, am 21. September 2019