Humans and Demons

In diesem Herbst hatte ich keine Zeit, um mir auch nur irgend etwas im steirischen herbst anzuschauen, da ich jegliche Kraftreserven für mein zweites Village Jazz Festival brauchte. Daher überlasse ich die übliche statistische Zusammenfassung dem Pressebüro und die Eröffnungsrede der Intendantin.

Grafik: Grupa Ee

Bei Humans and Demons geht es nicht um „Gut und Böse“. Nein, Humans and Demons bedeutet eher „Status quo und Böse“.

Wir wissen, was schrecklich ist, aber oft nicht, was gut ist – soll es gut sein für den Planeten im nächsten Jahrhundert oder gut für den Urlaub unserer Kinder heute? Gut für den gerechten Sieg über den Aggressor oder für den sofortigen Friedensvertrag mit dem Aggressor? Für die offene Ablehnung der Diktatur oder für die Sicherheit unserer Familie, die noch unter dieser Diktatur lebt?

Diese schwierigen Entscheidungen können nicht warten, müssen inmitten des Kriegs, der Krise oder zunehmender politischer Repression getroffen werden. Es scheint, das „Böse“ ist heute universell, türmt sich von allen Seiten auf, wäh­rend das „Gute“ relativ ist, in die Privatsphäre verschoben wurde, wo es auf einer sehr persönlichen Idee von dem basiert, was – unter den gegebenen Umständen – richtig ist.

Viele Entscheidungen werden vom Überlebensinstinkt diktiert werden, und sie könnten uns in Grauzonen bannen – Zonen des Kompromisses, der Kollaboration, des Verrats, des Pakts mit der Macht oder mit dem Teufel höchstpersönlich (so wie der eines unserer heurigen Charaktere: Dr. Jazz, ein Fan, Sammler und Unterstützer schwarzer Jazzmusik und gleichzeitig ein geflissentlicher Nazi-Offizier).

Primo Levi verstand etwas über Grauzonen, als er im KZ war, wo die Kapos und Sonderkommandos zwischen den Herren und den Häftlingen standen. Er wusste es zu vermeiden, sie zu verurteilen, aber nicht, über dieses Phänomen nachzudenken. Und er verstand, dass die Lektionen des KZs die Menschheit nach ihrer Schließung weiterhin begleiten.

„Auf diese Weise wurde innerhalb der Lager“, schreibt Levi, „die hierarchische Struktur des totalitären Staates, in dem alle Macht von oben her verliehen wird und eine Kontrolle von unten her nahezu ausgeschlossen ist, in kleinerem Maßstab, aber mit vergrößerten Merkmalen reproduziert.“

Und falls wir glauben, dass der totalitäre Staat uns nicht betrifft, fährt er fort:

„Der Aufstieg der Privilegierten ist nicht nur in den Konzentrationslagern, sondern in allen menschlichen Lebensverbänden ein beängstigendes, aber unabänderliches Phänomen: sie fehlen nur in den Utopien … Wo es eine von wenigen oder von einem einzelnen ausgeübte Macht über viele gibt, entsteht und vermehrt sich das Privileg, auch gegen den Willen der Macht selbst; aber es ist normal, daß die Macht es toleriert oder fördert.“

So beunruhigend es klingen mag, wenn wir unsere freien Gesellschaften verstehen wollen, ist es Zeit, auf Leute zu hören, die in Lagern und Diktaturen gelebt haben, die Stimmen derer zu hören, die es noch immer tun, derjenigen, die weiterhin in Russland, Belarus, Iran, Afghanistan oder gar Nordkorea leben – wir können uns nicht sicher sein, dass es dort keine unterdrückten Stimmen gibt, Stimmen, die sehr bald verstummen könnten.

Und wir müssen diejenigen wieder lesen, die vor uns mit dieser Erfahrung in ihren Knochen geschrieben haben. Es war nicht immer alles dunkel und tragisch, das Überleben kann genauso amüsant wie abenteuerlich sein.

In seinem Buch vom Lachen und Vergessen, dem ersten, das er im Westen, im Anschluss an seine Flucht aus der Tschechoslowakei nach dem sowjetischen Einmarsch, geschrieben hat, beschreibt der Romancier Milan Kundera das Leben als Koexistenz „engelhafter“ und „dämonischer“ Elemente. Er spricht von verschiedenen Arten des Lachens – Engel und Dämonen lachen unterschiedlich und über unterschiedliche Dinge. Engel und Dämonen sind für ihn nicht Gut und Böse – der Unterschied ist der, dass Engel sich sicher sind, dass die beste aller möglichen Welten einen Sinn hat, während Dämonen dies als absurd erscheint. Sie sehen keinen rationalen Sinn in irgendetwas und haben auch kein Bedürfnis, einen zu suchen.

In seiner Studie Das Böse liest der britische Literaturwissenschafter Terry Eagleton Kunderas Gegensatz politisch: Das „Engelhafte“ meint die Art, wie Politiker in ihrer klischeehaften Rhetorik über das Gemeinwohl, Patriotismus, Familie, Werte sprechen. Das „Dämonische“ meint die zynische Art, wie Politiker denken oder einander zuflüstern: Business as usual; wirtschaftliche Interessen; Realpolitik befreit von moralischen Fragen; lass uns einfach reich werden, man kann eh nichts ändern.

Wenn ich Eagletons Gedanken folge, würde ich vielleicht sagen, dass für Kundera, der gerade den Ostblock verlassen hatte, das „Engelhafte“ die leere bürokratische kommunistische Propaganda war, die er sehr gut kannte, und das „Dämonische“ – die leblose Maschine des gierigen Kapitalismus, der er gerade im Exil begegnete.

Kundera schreibt, dass beide Seiten in unserem Leben vorhanden sein sollten, um das Gleichgewicht zu halten. Aber er tut dies, weil er als Schriftsteller, als Intellektueller nach einem Ort suchte, der er ihm die Freiheit geben konnte, sich mit nichts zu identifizieren. Er wollte sich zwischen diesen beiden, dem „Engel­haften“ und dem „Dämonischen“, verstecken. Und es gelang ihm.

Heutzutage haben der ehemalige Osten und der ehemalige Westen allerdings bereits das Schlimmste voneinander gelernt. Der Westen fühlt sich breschnewistisch an mit seiner Bürokratie und seinen „Bullshit Jobs“. Der Osten ist so wirtschaftlich grausam und inhuman, wie er den kapitalistischen Westen früher dargestellt hat. Auch in der Kunst und Kultur haben die beiden die Rollen ge­tauscht. Die zeitgenössische Kultur der „freien Welt“ verkündet gelegentlich, dem „engelhaften“ Weg folgend, nichtssagende progressive Klischees. In Diktaturen wie dem heutigen Russland erfreut sich die Kunst hingegen oft nur des Pragmatischen und Entpolitisierten – des „Dämonischen“, nach Kundera und Eagleton. In beiden Fällen passt sich die Kultur an, unterstützt diejenigen, die die Regeln festlegen, und wechselt auf ihre Seite.

Ich würde Sie jetzt bitten, sich umzudrehen und sich eine Person, die bislang auch zugehört hat, genau anzuschauen. Es ist der Krieger vom 27. Infanterieregiment, einer Habsburger Militäreinheit, die vom 17. Jahrhundert bis zum Jahr 1919 aktiv war und hier 1932 in einem Denkmal verewigt wurde, vom Grazer Bildhauer Wilhelm Gösser, berüchtigt als „Arno Breker Österreichs“. Der Stil der Statue lässt uns erschaudern, auch wenn das Böse der Massenvernichtung, deren Geist sie ist, noch bevorstand. Die von ihr verkündete Ordnung ist patriarchalisch und aggressiv. Von dieser scheinbar menschlichen Figur geht eine Entmenschlichung aus.

Im Kontext von Humans and Demons sollten wir diese Figur jedoch eher als komisch denn als furchterregend betrachten. Jahrzehntelang lebte der Bildhauer Wilhelm Gösser bequem in einer Grauzone und diente jedem, der an der Macht war, ohne sich selbst klar zu positionieren, was ihm den Ruf eines freien Künstlers einbrachte, der nie der Kollaboration bezichtigt wurde. Vor diesem Krypto-Nazisoldaten hatte er Peter Rosegger und Engelbert Dollfuß gebildhauert, im Anschluss – Hitler und Mussolini. Im Früh­jahr 1945 meldete er sich freiwillig, um eine ganze Armee von Stalin-Büsten für den Bedarf der Sowjets herzustellen, nur um später mit Kriegsdenkmälern für österreichische Gefallene und Friedenssymbolen weiterzumachen. In den 1960ern und sogar bis in die 1990er wurde seine Kunst in der Steiermark als „kerngesund“ und „regenerativ“ gelobt. Dieses Lob verdankte er seiner „positiven“ Überlebenskraft, seinem Konformismus und seiner Anpassung, seiner Stärke im Gehorsam, im Gegensatz zu ungesundem Zweifel und Reflexion. „Furchtlos und treu“ lautet die Inschrift – Wilhelm Gösser aber war alles andere als das, er war feige und unstet, und ich kann nicht umhin, seine Figur genauso zu betrachten.

So wird der Soldat paradoxerweise menschlicher, zerbrechlicher. Er steht hier, pompös und stramm, aber halb vergessen und machtlos. Seine Bewegungslosigkeit erscheint wie eine Lähmung, und die einfache Tatsache, dass es sich um eine Skulptur handelt, wie Stummheit. Eines Tages könnte er jedoch auf­wachen. Die Meister dieser fiktiven Krieger, Künstler wie Gösser, erheben bereits ihre Köpfe – und ihre Hände – in verschiedenen Teilen der Welt, wo die Aggression gegen den Nachbarn langsam zur Grundlage des Nationalstolzes wird.

Beim steirischen herbst haben wir immer die dissidente Stimme der Kunst unterstützt, die Stimme der Ungehorsamen, der Andersartigen, derjenigen, die wie Kundera mit ihren rätselhaft poetischen Geschichten sowohl der Falle der engelhaften Didaktik wie der der dämonischen Wurschtigkeit entkommen. Wenn wir glauben, dass es in unserer kleinen und sicheren freien Welt nicht mehr nötig ist, für solch eine Stimme der Kunst zu kämpfen, liegen wir falsch, oder könnten sehr bald falschliegen.

Aber jetzt ist es Zeit für die Stimme.

Rückblick steirischer herbst ’23 – Humans and Demons

Am Sonntag endet die 56. Ausgabe des steirischen herbst, die sechste unter der Leitung von Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot. In Ausstellungen, unterschiedlichen Performance-Formaten, Diskursveranstaltungen, Kabaretts und einer Clubreihe ließ Humans and Demons die Grenzen zwischen den Künsten sowie zwischen Populär- und Hochkultur hinter sich, um sich anhand von Figuren und ihren Geschichten mit moralischen Grauzonen in unserer heutigen Welt auseinanderzusetzen.

„Ich freue mich, dass wir mit der ersten Ausgabe meiner neuen Intendanzperiode dort weitermachen konnten, wo wir mit dem steirischen herbst ’22 aufgehört haben: mit einem Programm, das neue Geschichten über Graz erzählt und diese mit dem aktuellen Geschehen in der Welt verbindet. So haben wir es wieder geschafft, für das Grazer Publikum ebenso interessant zu sein wie für die internationale Presse. Ich bin mir sicher, dass unsere diesjährigen Auftragsarbeiten in Erinnerung bleiben werden – etwa die Eröffnung am Schloßberg mit der Performance von Lulu Obermayer, der hypnotische Animationsfilm von Dana Kavelina, die Audioinstallation von Anton Kats, die Filme von Meg Stuart oder die bewegende Performance in der Annenstraße von Mateja Bučar. Ich bin sehr zufrieden mit dieser Ausgabe und sehr stolz darauf, dass der freie Eintritt zu unseren Ausstellungen und ein umfangreiches Vermittlungsprogramm, das wir auch Partnerinstitutionen in der Stadt anbieten, dem Festival mehr Publikum beschert haben. Der steirische herbst hat 2023 wieder gezeigt, dass er ein reichhaltiges Festival mit vielen verschiedenen, faszinierenden Facetten ist. Das ist der Weg, den wir in die Zukunft gehen wollen.“

—Ekaterina Degot

Mehr als 530 Mitwirkende aus 32 Ländern ermöglichten mit rund 125 lokalen Initiativen und Partner:innen das heurige Festival. Unabhängig vom Aufenthaltsort konnten die meisten vom steirischen herbst in Auftrag gegebenen Videoarbeiten auch online angeschaut werden, dazu gab es Livestreams vieler Diskussions-veranstaltungen. Auch der Ö1 Festivalpodcasttrug den steirischen herbst über Graz und die Steiermark hinaus. Jede Sendung dieser Kooperation mit Ö1 erreichte heuer wieder weit über 100.000 Hörer:innen.

Etcetera

steirischer herbst ’23

Design: Grupa Ee

Humans and Demons

Festival: 21.9.–15.10
 Neue Kurator:innen
Zu Beginn der zweiten Amtszeit von Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot begrüßt der steirische herbst zwei neue Mitglieder im kuratorischen Team: Pieternel Vermoortel ist neue Senior Kuratorin mit Schwerpunkt auf bildender Kunst. Sie leitete zuvor die belgische Kultureinrichtung Netwerk Aalst und ist Mitbegründerin des Londoner Kollektivs und Kunstraums FormContent. Gábor Thury verstärkt das Team als Kurator mit Schwerpunkt auf Performance und Theater. Sein beruflicher Werdegang hat ihn bereits als festen Dramaturgen ans Luzerner Theater sowie ans Hamburger Thalia Theater geführt.

 steirischer herbst ’23 – Humans and Demons
Der steirische herbst ’23 findet vom 21. September bis 15. Oktober unter dem Titel Humans and Demons in Graz und der Steiermark statt. Statt auf Begriffe oder Positionen, wie sie in der Kunstwelt gerne proklamiert werden, setzt das Festival heuer auf figurenzentriertes Erzählen, um die moralischen Grauzonen zu erkunden, mit denen wir heutzutage vielfach konfrontiert sind. Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot über ihre Ausgangsüberlegungen zur 56. Ausgabe:

„Wird der Ukraine-Krieg ewig dauern? Schickt uns ein nächstes Virus in den Lockdown? Wird künstliche Intelligenz die Menschheit ersetzen oder erwischt uns der Klimawandel zuerst? Es gibt keine einfachen Antworten auf die vielen Krisen der Gegenwart. Wir bewegen uns aktuell durch Grauzonen, in denen die dämonischsten Seiten der Menschheit zum Vorschein kommen. Solche heiklen moralischen Situationen kennt man schon aus dem gewalttätigen 20. Jahrhundert. Aber das Böse nimmt heutzutage auch neue, verführerische Formen an. Umso wichtiger ist es, wie Primo Levi sagt, die Linie zu ziehen, die die bloß Schwachen von den tatsächlich Bösen trennt.“

Die Charaktere im Mittelpunkt der Ausstellungen und Performances des steirischen herbst ’23 sind weder Held:innen noch Schurk:innen, sondern ähneln den charismatischen Figuren des Schelmenromans – einer frühneuzeitlichen Gattung, die zu einer Stadt wie Graz mit ihrer vormodernen Topografie bestens passt. Die über vierzig Arbeiten von Humans and Demons, von denen ein Großteil neue Auftragswerke sind, bieten Anknüpfungspunkte, um Graz und seine Welt neu zu entdecken – und dabei den scheinbar unbedeutenden, unheimlichen und manchmal merkwürdig optimistischen Geschichten der Stadt zu lauschen.


Lulu Obermayer, Foto: Stefan Burger

Lulu Obermayer eröffnet den steirischen herbst ’23 mit einer Performance über ein kryptofaschistisches Soldatendenkmal auf dem Schloßberg (in Kooperation mit der Oper Graz). Weitere Eröffnungsperformances von Adrienn Hód / HODWORKS und Michael Portnoy befassen sich mit den Zwängen und Verlockungen von Gehorsam und Social Engineering. Giacomo Veronesiuntersucht geopolitische Grauzonen, Mateja Bučar beschäftigt sich mit der Auslöschung des jüdischen Graz in der Annenstraße (in Kooperation mit dem Verein CLIO). Im weiteren Verlauf des Festivals erkundet das Theater im Bahnhof Deliberative Demokratie und Madame Nielsen beschwört die ambivalente Figur David Bowies herauf. In Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Graz entsteht außerdem eine neue Performance von Jasmina Cibic am zweiten Wochenende.

Neben diesen Performances bilden vier Gruppenausstellungen an vier teils ungewöhnlichen Orten das Herzstück des steirischen herbst ’23. Diese sind um historische Figuren aufgebaut, die mit der Geschichte von Graz verbunden sind.

Der erste Ausstellungsort ist ein Leerstand im noblen Mariagrün. Ein verlassenes Callcenter mit seiner genormten Architektur und seinem markanten Funkturm wird zur Heimat von Demon Radio, durch das Dr. Jazz, auch bekannt als Dietrich Schulz-Köhn, geistert. Schulz-Köhn war ein überzeugter Nazi und Offizier der Luftwaffe, aber auch ein Fan und Sammler der von seiner eigenen Partei verbotenen Jazzmusik. Nach dem Krieg wurde er zu einem erfolgreichen Radiomoderator und stiftete seinen Nachlass dem Grazer Institut für Jazzforschung. Ausgehend von seiner Geschichte beschäftigen sich die hier versammelten Werke – von Zuleikha ChaudhariAnna Engelhardt und Mark CinkevichDani GalJos de Gruyter & Harald ThysAnton KatsMichael Stevenson und Markus Sworcik und René Stiegler – mit widersprüchlichen Botschaften und Besessenheit.

Der zweite Ausstellungsort ist ein Langzeitpartner der Festivals: das Forum Stadtpark. Ein wenig erinnert es an eine modernistische Villa. Für den steirischen herbst ’23 wird es zur Villa Perpetuum Mobile, dem fiktiven Heim von Stefan Marinov, einem Dissidenten an mehreren Fronten. Der Physiker opponierte nicht nur gegen das kommunistische Regime in seiner Heimat Bulgarien, sondern glaubte in seinem Grazer Exil auch ein Perpetuum Mobile erfinden zu können. Als seine Experimente scheiterten, beging er Selbstmord. Die Beiträge in dieser Ausstellung – von Alice CreischerVadim FishkinHollis FramptonPedro Gómez-Egaña und Michael Stevenson ­– sind Objekte eines imaginären Interieurs, in dem Marinov gelebt haben könnte, und zeigen verschiedene Facetten seiner Suche nach Freier Energie.


Meg Stuart, Videoinstallation für den steirischen herbst ʼ23, Standbild, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin

Bekannt ist auch der dritte Ausstellungsort: Seit den 1960er-Jahren bringt das Minoritenkloster am rechten Murufer Religion und moderne Kunst zusammen. Eine der ersten dort ausgestellten Künstlerinnen war Mira Schendel. In eine katholische Schweizer Familie jüdischer Herkunft geboren, verbrachte Schendel den Zweiten Weltkrieg in Italien und Jugoslawien und erhielt 1944 in Graz einen kroatischen Pass. 1949 ging sie nach Brasilien, wo sie mit ihrer neo-konkreten Kunst berühmt wurde. Inspiriert von ihrer Geschichte verwandelt sich das Kloster für das Festival in die Church of Ruined Modernity. Diese steht für den Kontinent, den Schendel zurückgelassen hat, und reflektiert die Gewalt der Moderne – mit Werken von Pavel BrăilaAndrea BüttnerCyprien GaillardDana KavelinaMaria LobodaEteri NozadzeAndreas Fogarasiund Meg Stuart. Die letzten beiden neuen Auftragsarbeiten beziehen sich auf eines der herausragenden Denkmäler der Grazer Nachkriegsmoderne: die zu Festivalbeginn bereits abgerissene Vorklinik. Pavel Brăilas neuer Film beschäftigt sich hingegen wie Mateja Bučars Performance mit der Arisierung der Annenstraße (in Kooperation mit CLIO). Damit bestärkt der steirische herbst sein Engagement für die Stadt und ihre Lokalgeschichten, die über das Lokale hinausgehen.

Als letzter Ort wird ein weiterer Leerstand belebt – direkt am Griesplatz. Den ehemals flutgefährdeten Bezirk, in dem die Arbeiterklasse sowie Migrant:innen lebten und zum Teil immer noch leben, stellt sich der steirische herbst für diese Festivalausgabe unter den Wassern der Vergangenheit begraben vor. Ein ehemaliger Supermarkt, hinter dem sich ein ehemaliger Tanzsaal verbirgt, wird zur Zeitkapsel Submarine Frieda. Von hier aus kann man das Treiben im Bezirk beobachten – mit Werken von Lucile DesamoryGeorg Haberler und Shimabuku. Aber wer ist Frieda? Eine zufällige, fiktive Heldin, die entstand, als Pazifist:innen in der Zwischenkriegszeit aus Angst vor den Nazis das Wort „Friede“ auf dem Foto einer Demonstration veränderten. Frieda steht für all die anonymen Held:innen der Vergangenheit, die durch den Mahlstrom der Unterdrückung schwammen.

Die Ausstellungen und Performances von Humans and Demons werden begleitet von Artist Talks, Podiumsdiskussionen und einem prominent besetzten Symposium zur österreichisch-russischen Beziehung und der europäischen Verantwortung für den Ukraine-Krieg. Darüber hinaus arbeitet der steirische herbst mit dem INDIGO Festival in Ljubljana für ein Streitgespräch zwischen Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek zusammen.

Außerdem geht die Sonderrubrik des Festivals in der Literaturzeitschrift manuskripte in ihre zweite Runde. Auch das herbstkabarett kehrt zurück, diesmal mit sechs eigens in Auftrag gegebenen Shows von Julie BénaSelin DavasseBarbara JuchJessika und Jimmy KhazrikMikołaj Sobczak und Stefanie Sourial.

Zusätzlich gibt es heuer erstmals gleich vier herbstbars mit unterschiedlichen Angeboten, um nahe an den meisten Festival-Locations zu fast jeder Tages- und Nachtzeit zusammenkommen zu können. herbst-Specials gibt es dieses Jahr neben dem Feinkost Mild auch im Café Centraal, dem Contra Punto und der Beate. Zudem kehrt die Clubreihe des Festivals mit vier herbstclub-Veranstaltungen zurück.

Das Festivalprogramm wird außerdem wie immer von der herbstvermittlungmit verschiedenen Formaten begleitet. Darunter die sogenannten Eat and Greets – Artist Talks im Anschluss an Performances in Form von informellen Abendessen, Führungen durch die vier Ausstellungen für unterschiedliche Zielgruppen sowie Programme in Kooperation mit dem ORF musikprotokoll und anderen Partner:innen in der Stadt. Das Besucher:innen- und Pressezentrum befindet sich heuer zentral gelegen im Kunsthaus Graz.


Adrienn Hód / HODWORKS, Foto: Dániel Dömölky

Künstler:innen und Kollektive
Pavel Brăila, Mateja Bučar, Andrea Büttner, Zuleikha Chaudhari, Jasmina Cibic, Alice Creischer, Lucile Desamory, Anna Engelhardt und Mark Cinkevich, Vadim Fishkin, Andreas Fogarasi, Hollis Frampton, Cyprien Gaillard, Dani Gal, Pedro Gómez-Egaña, Jos de Gruyter & Harald Thys, Georg Haberler, Adrienn Hód / HODWORKS, Anton Kats, Dana Kavelina, Maria Loboda, Madame Nielsen, Eteri Nozadze, Lulu Obermayer, Michael Portnoy, Shimabuku, Michael Stevenson, Meg Stuart, Markus Sworcik und René Stiegler, Theater im Bahnhof, Giacomo Veronesi; herbstkabarett mit Julie Béna, Selin Davasse, Barbara Juch, Jessika und Jimmy Khazrik, Mikołaj Sobczak, Stefanie Sourial

Festivals-im-Festival
Wie gewohnt umfasst der steirische herbst zwei Festivals-im-Festival. Dank Unterstützung des Landes Steiermark kann das ORF musikprotokoll auch 2023 stattfinden. Unter dem Titel interconnected | interdependent lädt Elke Tschaikner und ihr Team vom 5. bis 8. Oktober dazu ein, die uns umgebende Umwelt nicht als statischen Ort, sondern als dynamisches Beziehungsgeflecht zu betrachten. Out of Joint – das Literaturfestival im steirischen herbst, konzipiert von Klaus Kastberger, wirft auch heuer einen Blick aus der Zukunft auf die Gegenwart und schaut vom 10. bis 13. Oktober unter dem Motto Wer gegen wen? auf die Bruchlinien moderner Gesellschaften.

Partnerprogramm
Wie in den vergangenen Jahren richten verschiedene Kulturinstitutionen und Künstler:innen aus Graz und der Steiermark im Rahmen des steirischen herbst eigene Projekte aus. In der zweiten Woche legt das Festival heuer erstmals einen Schwerpunkt auf sie.

Zu den Partner:innen 2023 zählen APORON 21Camera AustriaCLIO Verein für Geschichts- und Bildungsarbeitesc medien kunst laborGrazer KunstvereinGrazer Spielstätten / GRIESSNER STADL / Schallfeld EnsembleGrätzelinitiative MargaretenbadHDA – Haus der ArchitekturLisa Höllebauer und Lisa SchantlKiG! Kultur in GrazKULTUMUSEUM GrazKunsthaus GrazmanuskripteQL-GalerieDas Planetenparty Prinzipprenninger gesprächeRoter KeilSchauspielhaus GrazSteirische Gesellschaft für KulturpolitikChristoph SzalayTheater am Lend / Franz von StrolchenHeinz Trenczak.

Neben einer Kooperation mit dem Schauspielhaus Graz für die Österreichpremiere von Elfriede Jelineks Sonne/Luft, finden sich weiters eine Bibliothek des Widerstands in Prenning’s Garten, historische Rundgänge zur Arisierung der Annenstraße von CLIO, eine von Christoph Szalay kuratierte Wanderung mit Performances durch die Ramsau, die Jubiläumsschau zu zwanzig Jahren Kunsthaus Graz, die zweite Ausgabe der prekARTe von APORON 21, neue Ausstellungspartner wie Roter Keil und KiG! Kultur in Graz ebenso wie viele weitere neue und wiederkehrende Partner:innen unter den zahlreichen spannenden Projekten.

 Ö1 Festivalpodcast
Das vierte Jahr in Folge arbeitet der steirische herbst mit dem öffentlich-rechtlichen Sender Ö1 für einen Festivalpodcast zusammen. Zeitgenössische Kunst in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen in den Fokus rücken, die Interdisziplinarität in der Kunst fördern und der Reflexion des Zeitgeschehens ausreichend Raum bieten – all das sind Themen, die Ö1 und den steirischen herbst miteinander verbinden. Auch diesmal wird der Festivalpodcast zu weiterführenden Gesprächen und Gedanken einladen – sowohl auf Ö1 als auch auf radiothek.ORF.at.
 

Der steirische herbst ’23 wird kuratiert von Ekaterina Degot, David Riff, Pieternel Vermoortel, Gábor Thury, Barbara Seyerl und geschaffen von allen teilnehmenden Künstler:innen, Sprecher:innen und Partnerinstitutionen sowie dem Team des steirischen herbst. Das herbstkabarett wird von Mirela Baciak kuratiert. Das vollständige Programm wird am 15. August veröffentlicht. An diesem Tag beginnt auch der Online-Ticketverkauf. Die Akkreditierung für Presse und Fachbesucher:innen ist ebenfalls ab August möglich. Für eine frühere Registrierung und bei Fragen kontaktieren Sie bitte presse@steirischerherbst.at. Bildmaterial finden Sie unter: www.steirischerherbst.at/presse

Über den steirischen herbst
Der steirische herbst ist ein jährlich stattfindendes interdisziplinäres Festival für zeitgenössische Kunst, das seit seiner Gründung 1968 ein kritisches Anliegen verfolgt und die begrifflichen Grundlagen dessen, was Kultur für das Zeitgenössische bedeuten könnte, immer wieder neu definiert. Als produzierendes Festival mit internationaler Strahlkraft ist der steirische herbst fest in Graz und der Steiermark verwurzelt und rückt künstlerisches Schaffen in den Fokus, das gesellschaftspolitische Fragen kommentiert und öffentliche Debatten auf unterschiedliche Art, quer durch alle Disziplinen und Medien provoziert und konturiert. Für Rückfragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
steirischer herbst Pressebüro
presse@steirischerherbst.at
+43 316 823 007 61

steirischer herbst ’22

steirischer herbst ’22
Ein Krieg in der Ferne
Prolog-Ausstellung 1.7.–1.8.22
Festival 22.9.–16.10.22
Eröffnungstage 22.9.–25.9.22
Programmvorschau aus einer Pressemitteilung vom 30.6.22
In seiner 55. Ausgabe widmet sich der steirische herbst unter dem Titel Ein Krieg in der Ferne in einem dichten Programm an Ausstellungen, Performances und Diskussionen der bedrohlichen Präsenz von Schlachten, die unsere Gesellschaft geistig abschirmt.
Chefkuratorin und Intendantin Ekaterina Degot beschreibt das Konzept ihrer fünften Ausgabe wie folgt:
 
„Kriege sind in die Geschichte des steirischen herbst eingeschrieben. Während frühe Festivalausgaben vom Kalten Krieg überschattet wurden, fanden spätere statt, als gleich nebenan die Jugoslawienkriege wüteten. Der russische Angriff auf die Ukraine ruft auf schmerzhafte Weise verblichene Erinnerungen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg wach und bildet den neuesten Eintrag in dieser langen Liste drohender Kämpfe in der unmittelbaren Nachbarschaft.
 
Gelegentlich hat man jedoch immer noch den Eindruck, dass in dieser gemütlichen Ecke Österreichs, wie auch an vielen anderen behaglichen Orten in Europa, Kriege und Konflikte fehl am Platz sind. Ausbrüche des Mitgefühls gegenüber denen, die von Kriegen ,anderswo‘ betroffen sind, sind zweifellos aufrichtig, aber gleichzeitig gilt die Welt hier als sicher. Die Front wird auf Abstand gehalten, nicht gesehen und nicht gehört, bis das Verdrängte mit voller Wucht zurückkehrt.“
 
Ein Prolog zum Festival beschäftigt sich bereits von 1. Juli bis 1. August mit dem Angriffskrieg Russlands in der Ukraine – dessen Relevanz und Nähe nun nicht mehr ignoriert werden können. In der Sonderausstellung Ein Krieg in der Ferne. Prolog. Die umkämpfte Ukraine in Videokunst und Film präsentiert der steirische herbst historische und zeitgenössische Videokunst und Filme zu diesem Krieg in der Neuen Galerie Graz, kuratiert von Mirela Baciak und David Riff. Zu den teilnehmenden Künstler:innen zählen Pavel BrăilaOleksandr DovzhenkoDana KavelinaZoya LaktionovaKateryna LysovenkoMykola Ridnyi und Philip Sotnychenko. Anlässlich der Eröffnung am 1. Juli finden Artist Talks und eine Podiumsdiskussion mit dem Journalisten Herwig G. Höller, der Schriftstellerin Julya Rabinowich und dem Historiker Peter Ruggenthaler zur Bedeutung des Ukrainekriegs aus österreichischer Sicht statt.

Herzstück des Festivals im Herbst ist eine Gruppenausstellung in beiden Flügeln des ersten Stocks der Neuen Galerie Graz, für die der historische Eingang in der Neutorgasse wieder geöffnet wird. Das Festivalteam hat zu weniger bekannten und vergessenen Werken ihrer Sammlung von Kunst aus dem 19. und 20. Jahrhundert recherchiert. Manche Arbeiten scheinen auf den ersten Blick arglos, andere sind verstörend politisch. Sie werden zeitgenössischen Kunstprojekten gegenübergestellt, von denen viele neu in Auftrag gegeben wurden.
 
Die Ausstellung stellt klassische Narrative der Moderne infrage und bietet eine subjektive und fragmentarische Neuinterpretation der Sammlung der Neuen Galerie Graz, die Spuren ignorierter Kriege, verborgener Geschichten und unterdrückter Konflikte offenlegt. Sie verbindet Vergangenheit und Gegenwart und erforscht die künstlerische Reflexion einer zunehmend gespaltenen Welt, die von der Auflösung von Imperien, anhaltendem Kolonialismus und wachsenden Klassenkonflikten geprägt ist. Während so die dunkleren Seiten der Moderne untersucht werden, reflektiert das Festival auch seine eigene tieferliegende Politik und Geschichte. Diese Ausstellung ist eine Kooperation mit der Neuen Galerie Graz / Universalmuseum Joanneum und läuft bis 12. Februar 2023.
 
Das performative Programm des Festivals aktiviert andere Motive und Erinnerungen im Zusammenhang mit Kriegen und Konflikten in neuen Auftragsarbeiten von Boris Charmatz, Boris Nikitin, Theater im Bahnhof,Giacomo Veronesi, Ming Wong und Raed Yassin.
 
Im Forum Stadtpark präsentiert der steirische herbst eine Ausstellung zum Filmemacher Harun Farocki, die sich gegen die Kriege des 20. und 21. Jahrhunderts richtet. Sie enthält auch weniger bekannte Werke und wird sowohl von Diskussionen und Gesprächen als auch dem herbstkabarettbegleitet, das heuer mit Verena DenglereSeL (Lorenz Seidler) und Les Trucs seinen Auftakt feiert.
 
In einer neuen Zusammenarbeit mit dem Literaturmagazin manuskripte steuert der steirische herbst eine Sonderrubrik mit Kriegstagebüchern und -gedichten aus der Ukraine bei, ausgewählt von der Lyrikerin Galina Rymbu.

Künstler:innen 
 
Gabriel AbrantesFriederike AndersBoris CharmatzKeti ChukhrovJosef DabernigHarun FarockiJannik FranzenAslan GoisumAssaf GruberEmil GruberFlaka HalitiYuriy IllienkoIman IssaZhanna KadyrovaRajkamal KahlonKateryna LysovenkoEkaterina MuromtsevaHenrike NaumannNavaridas & DeutingerBoris NikitinIgor Friedrich PetkovićNihad Nino PušijaMykola RidnyiWillem de Rooij, Augustas SerapinasTheater im BahnhofGiacomo VeronesiMing WongRaed Yassinherbstkabarett mit Verena DenglereSeL (Lorenz Seidler)Les TrucsZvjezdana FioFranz Yang-Močnik und andere Künstler:innen aus der Sammlung der Neuen Galerie Graz
 
Die vollständige Liste der teilnehmenden Künstler:innen und Kollektive wird im September veröffentlicht.


Ein Krieg in der Ferne. Prolog. Die umkämpfte Ukraine in Videokunst und Film, Installationsansicht, Neue Galerie Graz. Credit: Universalmuseum Joanneum / J.J. Kucek
Festivals-im-Festival 

Wie gewohnt umfasst der steirische herbst die Festivals-im-Festival musikprotokoll und Out of Joint – das Literaturfestival im steirischen herbst. Unter der Leitung von Elke Tschaikner beleuchtet das musikprotokoll 2022 von 6.10. bis 9.10. mit Whodentity aktuelle Fragen nach Zugehörigkeiten. Konzipiert von Klaus Kastberger, fragt Out of Joint von 11.10. bis 14.10. vor dem Hintergrund großflächiger Zerstörung, kriegerischer Aggressionen und Ressourcenverschwendung Wer wir waren? und welche Alternativen es zum Bestehenden gibt.
Parallelprogramm
 
Ein vielfältiges Programm von rund 20 Institutionen und Kunstschaffenden in Graz und der Steiermark ergänzt den steirischen herbst ’22. Wie jedes Jahr finden sich neben bekannten Namen auch neue Kollaborationen auf der Liste. Zu den Projekten außerhalb von Graz werden Bustouren angeboten.
Partner in Graz

Annenstrasse 53,APORON 21esc medien kunst laborGrazer KunstvereinHALLE FÜR KUNST SteiermarkKunsthaus GrazmanuskripteSteirische Kulturinitiative und Theater Quadrat
 
Partner in der Steiermark und darüber hinaus

ARGE Oper im Durchbruchstal (St. Barbara im Mürztal), eisenerZ*ART(Eisenerz), Haus lebt (Hartberg), Steirische Kulturinitiative (Maribor, Ruden und Villach), Theater Quadrat (Oberzeiring), WIENDRAMA (Eisenerz, Fohnsdorf, Fürstenfeld, Gnas, Möderbrugg, Stainz)
 
Partner Kunst der Verführung

Creative Industries Styriadesignforum SteiermarkFH JOANNEUM | Institut Design & KommunikationGraz MuseumKULTUM. Zentrum für GegenwartKunst und Religion in GrazKunsthaus GrazHDA – Haus der ArchitekturFG Werbung & Marktkommunika­tion der WK SteiermarkAnkünder
6 Ausstellungen zum Thema Grafikdesign im Spannungsfeld von Kunst und Werbung; ein Projekt initiiert von Siegfried Gruber, koordiniert von Creative Industries Styria
Ö1 Festivalpodcast
 
Das dritte Jahr in Folge arbeitet der steirische herbst mit dem öffentlich-rechtlichen Sender Ö1 für einem Festivalpodcast zusammen. Zeitgenössische Kunst in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen in den Fokus rücken, die Interdisziplinarität in der Kunst fördern und der Reflexion des Zeitgeschehens ausreichend Raum bieten – all das sind Themen, die Ö1 und den steirischen herbst miteinander verbinden. Auch diesmal wird der Festivalpodcast zu weiterführenden Gesprächen und Gedanken einladen – sowohl auf Ö1 als auch auf radiothek.ORF.at.
Der steirische herbst ’22 wird gestaltet von allen teilnehmenden Künstler:innen, Partnerinstitutionen, Denker:innen, Philosoph:innen sowie Ekaterina Degot, Intendantin und Chefkuratorin, Henriette Gallus, stellvertretende Intendantin, Christoph Platz, Leiter der kuratorischen Belange, David Riff, Senior Curator, Dominik Müller, Kurator, Mirela Baciak, Kuratorin, Gábor Thury, Kurator, und dem gesamten Team des steirischen herbst. Mit kuratorischer Beratung von Goran Injac.
 
Kurator:innen der Ausstellung in der Neuen Galerie Graz: Ekaterina Degot mitDavid RiffChristoph PlatzMirela BaciakBarbara Seyerl (steirischer herbst), mit kuratorischer Beratung von Gudrun Danzer und Günther Holler-Schuster (Universalmuseum Joanneum)
 
Das vollständige Festivalprogramm ist ab 1. September online. Der Online-Ticketverkauf beginnt ebenfalls am 1. September.
Über den steirischen herbst
 
Der steirische herbst ist ein jährlich stattfindendes interdisziplinäres Festival für zeitgenössische Kunst, das seit seiner Gründung im Jahr 1968 ein kritisches Anliegen verfolgt und die begrifflichen Grundlagen, was Kultur für das Zeitgenössische bedeuten könnte, immer wieder neu definiert. Als produzierendes Festival mit internationaler Strahlkraft ist der steirische herbst fest in Graz und der Steiermark verwurzelt und rückt künstlerisches Schaffen in den Fokus, das gesellschaftspolitische Fragen kommentiert und öffentliche Debatten auf unterschiedliche Art, quer durch alle Disziplinen und Medien provoziert und konturiert.
Für Rückfragen steht das steirischer herbst Pressebüro gerne zur Verfügung.
 
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steirischer herbst ’21

Europaplatz Graz … Ansprachen … Ansprachen … Ansprachen … steirischer herbst ’21

Eröffnungsrede von Ekaterina Degot
Europaplatz, 9.9.21, 17:00

[Sprechchor: The! Way! Out!]

Ich will raus.
Raus aus dem Lockdown.
Raus aus der Pandemie, und raus aus den Maßnahmen gegen sie.
Raus aus der Krankheit, und raus aus der Hygiene.
Raus aus der Gefahr, und raus aus der Sicherheit.
Ich möchte raus aus diesem Zaun hier um uns herum. Und ich muss Ihnen versichern, dass es heute, hier auf diesem Platz, am Ende dieser Eröffnung, die eine umzäunte Eröffnung ist, mehr Ausgänge als Eingänge geben wird. Weil ich weiß, dass auch Sie rauswollen.

Stellen Sie sich vor, dass ich eine Studentin in der Sowjetunion bin, ganz am Ende des Kalten Krieges, von dem ich noch nicht weiß, dass er ganz am Ende ist – Enden und Anfänge sind schwer zu fassen. Was ich weiß, ist, dass es mir nie möglich sein wird, das Land zu verlassen, nicht mal als Touristin, nicht mal für einen kurzen Abstecher. Ich werde das „Draußen“ nur träumen und indirekt erleben – über Bücher und Film vielleicht, obwohl auch sie nicht immer verfügbar sind. Ich bin in einer Kleinheit gefangen, in diesem riesigen Land, das sich winzig anfühlt, weil es keinen Platz für Kafka und auch nicht für Orwell hat. Dies wird für immer meine intellektuelle Klaustrophobie bestimmen.

Stellen Sie sich vor, dass ich eine Schriftstellerin in Graz in den frühen 1950ern bin. Bevor es das Forum Stadtpark und bevor es den steirischen herbst gab. Aber ich weiß noch nicht, dass dies die Zeit „davor“ ist, weil es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, die nicht voranschreitet. Schwere und dunkle Zeiten, die stillstehen wie ein Sumpf. „Wir sind wir. Graz ist Graz“, wie es Alfred Kolleritsch mit einem Gefühl der traurigen Resignation ausdrückte, als er seine Jugend nach dem Nationalsozialismus beschrieb. Als diese anonyme Schriftstellerin im Graz der frühen Fünfziger möchte ich nur raus. Und im Gegensatz zu meinem jungen Moskauer Selbst könnte ich als diese anonyme Schriftstellerin das Land verlassen. Aber ich fühle auch, dass diese Energie des Raus-Wollens, diese Energie der Negation einen Nutzen hat und mehr wert ist als die banale Geste, ein Zugticket nach Paris zu kaufen.

Stellen Sie sich vor, dass ich eine afghanische Frau im Jahr 2021 bin. Ich weiß, dass die Amerikaner rauswollen, und es ist ihr Recht, denn es ist nicht ihre Geschichte. Ihr Weg hinaus führt sie nach Hause, ins Bekannte, zu dem, was ihres ist. Aber ich möchte auch hinaus, ins Unbekannte, zu dem, was nicht meines ist. Genau aus dem Grund, dass dies meine Geschichte ist, und ich sie nicht verdiene. Ich hatte das Unglück, am falschen Ort geboren zu werden. Ich habe das Recht, hinauszuwollen. Aber ich werde nicht mal aus dem Haus gelassen – von den Taliban. Und ich werde nicht aus meiner Identität als afghanische Person gelassen – vom Westen. Eine afghanische Person, die ihre eigenen Traditionen und Möglichkeiten haben soll, andere als im Westen, so sieht es zumindest der Westen. Also bin ich gefangen.

Sowohl die Rechte wie auch die Linke haben uns jetzt alle in einem bestimmten Rahmen gefangen.
Es gibt eine rechtsradikale Kleinheit, mit Familie, Patriarchat und Fremdenfeindlichkeit.
Es gibt eine linksradikale Kleinheit, mit unterdrückten Identitäten, Safe Spaces, Flugscham und einem Misstrauen gegenüber großen Narrativen.
Ich möchte raus aus dem Kleinen.
Ich möchte nicht nur hinaus aus Afghanistan, der Sowjetunion oder diesem Graz nach dem Nationalsozialismus. Ich möchte aus Prinzip hinaus aus dem „Hier und Jetzt“, das „Hier und Jetzt und sonst nichts“ bedeutet. Hinaus aus der erstickenden Kleinheit, die jenen Gewalt antut, die nicht dazugehören.
Ich bestehe auf ein Recht, woanders zu sein, jemand anderes zu sein.
Dafür brauche ich Kunst.
Die Kunst ist bei uns, um unsere Wirklichkeit, unsere Orte und unsere Zeiten darzustellen, aber auch, um sie zu negieren, denn nach Magritte wissen wir, dass eine Pfeife keine Pfeife ist, dass es umso weniger eine Pfeife ist, umso mehr es danach ausschaut. Indem sie das Leben auf eine überaus realistische Art und Weise darstellt, sagt die Kunst uns eigentlich, dass es etwas außerhalb davon gibt.

Wenn sie das tut, ist die Kunst gefährlich für totalitäre Regime ebenso wie für noch nicht totalitäre, sondern einfach nur überregulierte, wie das, unter dem wir gerade leben.

In der geängstigten und angstlösenden westlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die von Sicherheit auf allen Ebenen besessen ist und allen Uneinigkeiten oder Konflikten mit rechtlichen wie moralischen Mitteln zuvorkommen möchte, ist es nicht mehr die Sphäre des Lebens, sondern die der Kunst, in der alles Unvorhersehbare möglich ist: bedeutsame Begegnungen, totale Zufälle, gewagte Vermutungen sowie tragische und unüberbrückbare Differenzen.
Lassen Sie es uns nicht Freiheit nennen; das Wort ist gleichzeitig ein Zuviel und ein Zuwenig, ehrgeizig und abgedroschen. Lassen Sie es uns, etwas bescheidener, A Way Out, einen Ausweg, nennen. Some kind of way out.Irgendein Ausweg.

„There must be some kind of way out of here,“
Said the joker to the thief.
„There’s too much confusion,
I can’t get no relief.
Businessmen, they drink my wine,
Plowmen dig my earth.
None of them along the line
Know what any of it is worth.“

Diese Zeilen von Bob Dylan aus den späten Sechzigern hatten wir nicht im Kopf, als wir dieser Ausgabe ihren Namen gaben. Aber sie passen, denn der Joker und der Dieb sind unsere Helden, sie sind Künstler, sie sind freie Geister. Sie sind diejenigen, die einen Ausweg finden können.

[Sprechchor: The! Way! Out!]

Vielleicht muss ich ausgehen. Um einige Kleider oder Schuhe auszuführen, die sich seit fast zwei Jahren im Winterschlaf befinden, um ein Glas Wein zu trinken, um mich zu unterhalten.

Nicht jede Kultur kennt übrigens diesen Begriff des „Ausgehens“. Ich würde mir etwa schwer damit tun, ihn ins Russische zu übersetzen. In Russland kann man ins Theater gehen oder jemanden besuchen, aber wenn man „ausgeht“, dann bedeutet das einfach, dass man physisch auf die Straße hinausgeht, um, sagen wir mal, den Mist rauszutragen.

Warum nehmen wir, wenn wir im Deutschen, Englischen oder Französischen von „ausgehen“ sprechen, an, dass es sich um eine Party handelt und nicht um einen Spaziergang mit dem Hund? Wussten wir immer schon, dass es, wie während der Lockdowns, die hinter uns liegen, eines Tages ein seltenes Vergnügen sein wird, sich auf der Straße aufzuhalten? Oder ist es vielleicht so, dass es wirklich ein festlicher Augenblick, eine Feier ist, wenn man sich selbst zurücklässt und andere trifft? Nicht die Feier eines „Wir“-Gefühls, das noch zerbrechlicher ist als unsere Egos. Sondern die Feier dessen, dass man einfach nicht die ganze Zeit in sich selbst ist und rausgeht?

Allerdings, um auszugehen muss man in einer Stadt sein. Auf dem Dorf geht man kaum aus: Da es dort keine anderen, keine Fremden gibt, riskiert man auch nicht, ihnen gegenüberzustehen. Man bleibt sicher bei sich daheim, selbst wenn man auf den Markt geht.

Ist Graz eine „Drinnen-“ oder eine „Draußen-Stadt“?

Es gibt wunderschöne Parks in Graz, in denen sich die Menschen sehr zuhause fühlen, aber sehr wenige Plätze, auf denen sie einer anderen architektonischen Logik untergeordnet wären als in ihrem häuslichen Leben, der sozialen oder politischen Logik einer Agora, eines Forums, einer Arena.

Man kann das auch lieben. Wie der große Grazer Schriftsteller Dževad Karahasan einst bemerkte, war er in Graz „nachhaltig beeindruckt von der Liebe, die man in dieser Stadt dem Stadtpark entgegenbringt“, und irritiert „von der Geringschätzung, die in der Beziehung dieser Stadt zu ihren Plätzen zum Ausdruck kommt“. Er fand Graz sehr machtfeindlich und zwanglos und hatte Freude daran, „daß der Hauptplatz so gar nichts Pathetisches an sich hat, sondern ganz offensichtlich primär für die Menschen da ist und nicht für den Staat“. Es gefiel ihm, dass es „niemanden stört …, daß es richtige Plätze, wie sie einer Stadt würdig sind, im Grunde genommen nicht gibt“.

Uns beim steirischen herbst gefällt das auch, aber gewiss vermissen wir auch Plätze als politische und soziale Foren. Wir vermissen sie auf einer pragmatischen genauso wie auf einer konzeptuellen Ebene, weil wir an diesen Orten immer mit unserer Geschichte des Jahres anfangen wollen. Wir suchen nach Plätzen, die vielleicht auch rund sind und sich nach politischem Forum anfühlen! Und der Europaplatz hat uns dabei nie im Stich gelassen.

Also, Graz: eine „Drinnen-Stadt“? Graz hat eine starke „Drinnen“-Atmosphäre, nicht so stark wie das Moskau meiner Jugend, wo alle wichtigen Gespräche in der Küche stattfanden, aber nah dran – hier finden die Gespräche auf den Markplätzen statt.
Es gibt großartige Märkte in Graz, aber es gibt wenig Kaffeehäuser im wienerischen Sinne, die, wo man Zeitung lesen soll, während man Fremde durch große Fensterscheiben beobachtet, wo man sich eine politische Meinung bilden soll, vermutlich eine kritische, denn zu viel Beobachtung führt zweifellos zu einer überentwickelten Kompetenz auf diesem Gebiet. Diese Cafés sind Orte eines sitzenden politischen Flaneurtums. Es gibt sehr wenige Kaffeehäuser dieser Art in Graz im Vergleich zu Wien oder Paris. Sie sind eher alle ganz im Inneren, warm, dunkel, und wenn es einen Gastgarten gibt, ist er von der Straße nicht einsehbar. Wer sich dort trifft, hat das Gefühl, Teil einer gefährlichen und illegalen Oppositionsgruppe zu sein. Dies ist der mittelalterlichen Struktur der Stadt geschuldet respektive verdankt sich ihr. Elfriede Jelinek trauerte einst um das Café Erzherzog Johann in der Sackstraße, wo sie sich mit anderen Schrifsteller:innen traf, allen voran Fredy Kolleritsch. Jetzt ist es womöglich, schrieb sie, „ein vampirischer Ort, der vielleicht in der Nacht seine Zähne in die Passanten schlägt, die vorübergehen“. Es wird niemanden überraschen, dass Orte, an denen politisch brisante Gespräche geführt werden, ihre gefährliche Störkraft über Jahre beibehalten.

[Sprechchor: The! Way! Out!]

Wie soll man die Mauer dieser unpolitischen Häuslichkeit durchbrechen? Der steirische herbst stellt und beantwortet diese Frage seit Jahrzehnten. Aber heutzutage ist nicht nur der konservative Geist gegen uns – es ist ein konservativer Geist, der durch die Pandemie und die allgemeine Atmosphäre der Angst enorm bekräftigt wurde.

Die Pandemie hat uns alle klein gemacht, beschränkt auf unsere eigenen vier Wände. Sie hat uns auch kleingeistig gemacht. Alles auf planetarischer Ebene Große wird von der Linken wie von der Rechten verdächtigt, und vieles davon zurecht – an Ihnen, zu entscheiden: Marktwirtschaft; Überproduktion; unverantwortliche Reisen; universalistische Ideen, die nur die weiße, männliche Macht widerspiegeln; berufliche Ambitionen; die großen Narrative, die die letzte Säuberung überlebt haben. Die Kunst könnte man leicht auch mit diesem Bad ausschütten. Denn in der Kunst geht es immer darum, mit dem Status quo unzufrieden zu sein. Selbst wenn es ein überaus bescheidenes und biederes Stillleben ist, handelt es immer von etwas anderen, etwas Größerem.

Die Pandemie hat uns auch alle alt gemacht. Wir sollen zufrieden sein mit dem, was wir haben, nicht zu viel wollen, nicht davon träumen, um die Welt zu reisen. Wir müssen akzeptieren, dass viele Dinge außerhalb unserer Reichweite liegen, dass es zu spät ist. Wir sollen zufrieden sein in unserem Daheim, mit selbstgebackenem Brot und Enkeln, die wir irgendwann vielleicht haben werden. Es ist ein Pensionistenleben an einem Ort, der früher als Pensionopolis bekannt war.

Es gibt einen Lifestyle-Trend, der bereits vor der Pandemie eine riesige internationale Karriere hingelegt hat: das dänische Konzept der Hygge. Durch Zeitschriften wissen wir mittlerweile alle, was Hygge ist, und in der deutschsprachigen Welt braucht man dieses Wort nicht einmal, denn wir haben unsere biedermeierliche Gemütlichkeit. Hygge bedeutet, zuhause zu bleiben, besteht aus einfachen Freuden: Wärme, Behaglichkeit, Kaschmirpullover, Familie und Kürbissuppe. Es ist seit Jahrhunderten Teil der dänischen Kultur und jetzt sogar vegan und konsumkritisch, vielleicht sogar ein bisschen antikapitalistisch, und definitiv antimodern. Aber am meisten bedeutet Hygge, sich von den Problemen dieser Welt fernzuhalten, die Tür zur Welt für den inneren Frieden und die innere Stabilität zu schließen. Wir haben die letzten Jahre eine Albtraum-Version von Hygge/Gemütlichkeit gelebt, und sie wurde auch als Weg zu unserer physischen und mentalen Gesundheit beworben. In Graz sehen wir sogar eine sehr erfolgreiche Outdoor-Variante von Hygge – mit Picknicks, Fahrrädern und viel, viel Sport.

Erlauben Sie mir, etwas Skandalöses zu sagen: Österreich könnte das Dänemark Mitteleuropas sein. (Oder ist Dänemark, seit Hamlet, vielleicht die beste Metapher für Allesmögliche?) Das Gefühl der Kleinheit zu hegen, Glück darin zu finden, ist sehr dänisch, aber auch sehr nachkriegsösterreichisch. Das Gleiche gilt, wenn man die Suche nach Glück zum Hauptziel seines Lebens macht. Oder sich auf die sozialistische Vergangenheit beruft, mit ihren Annahmen der Gleichheit. Natürlich basiert diese Gleichheit wie überall auf dem – zumindest geistigen – Ausschluss derjenigen, die nicht gleich oder nicht gleich genug sind, mit ihren unterschiedlichen Pässen und anderen Hautfarben.

In Dänemark haben einige mutige Denker:innen bemerkt, dass eine Hygge-Situation um ein wärmendes Feuer herum weniger hyggelig wird, wenn Nicht-Hygge-Menschen dabei sein, also Ausländer. Ich glaube, das wissen wir auch hier. Bei der Gemütlichkeit geht es um Konformität und Konsens, die von denen zunichtegemacht wird, die sie stören. Diejenigen, die ein Problem benennen, sind selbst ein Problem.

In Dänemark hat man auch bemerkt, dass rechte Politiker:innen permanent Hygge-Ideologie als fremdenfeindliches Argument einsetzen. Als Argument für Sicherheit auf allen Ebenen, wo alles, was diese Sicherheit bedroht, nicht toleriert werden kann.

Aus dem aktuellen, von Hygiene dominierten Blickwinkel ist es übrigens sicherer, draußen auf der Straße als drinnen zu sein. Das ist kontraintuitiv, denn die Straßen sind immer noch voller Hurricanes und Tornados, voller gefährlicher Fremder, mit ihren Autos und blitzschnellen Motorrädern, aber in letzter Zeit war alles ziemlich kontraintuitiv.

Aber aus dem Blickwinkel der Kunst ist es immer noch riskant, auf der Straße zu sein, und es ist genau dieses aufregende ästhetische Risiko, das uns dieses Jahr im Festivalprogramm fasziniert. Es ist riskant, wenn Künstler:innen mit aggressiver Werbung, gesprächiger, überpräsenter Architektur sowie abgelenkten und ablenkenden Massen um die Aufmerksamkeit des Publikums streiten. Die Kunst tritt in einen Wettstreit mit dem Wirklichen, aber das ist der einzige Weg, wirklich zu werden.

Besonders am Anfang dieses steirischen herbst, aber auch über den ganzen Monat, den er heuer dauert, brechen wir aus den White Cubes der Kunsteinrichtungen aus – ohne dabei zu verkündigen, dass wir dahin nie wieder zurückkehren – und zum Teil auch aus der Online-Welt, wo wir letztes Jahr unser großartiges Paranoia TV veranstaltet haben (obwohl wir online auch präsent sein werden, mit einigen interessanten und wilden Überraschungen). Wir wollen sie im echten Leben treffen. Parks werden vielleicht zu den Plätzen, die in Graz fehlen, Straßen – zu den seltenen Kaffeehäusern, die für die Lektüre und die Bildung eines politischen Bewusstseins da sind. Wir zählen darauf, dass Sie da sind, da draußen.

Kunst hat die magische Fähigkeit, uns glücklich zu machen. Sie macht jedenfalls mich sehr häufig glücklich. Aber sie ist nicht dazu da, uns glücklich zu machen. Vielleicht ist sie dazu da, uns unzufrieden zu machen mit den Orten, an denen wir uns befinden, und den Menschen, die wir sind. Diese Unzufriedenheit nennt man Hoffnung, Verlangen, sie heißt Bedeutung.

Das Leben ist der Ausweg für die Kunst, und die Kunst der Ausweg für das Leben – oder, wenn wir vorsichtiger sein wollen: der Ausweg aus dieser merkwürdigen umzäunten Situation, in der wir uns wiedergefunden haben, auf physischer wie metaphorischer Ebene.

Hiermit eröffne ich das heurige Festival, mit großem Dank an alle, die dazu beigetragen haben – Künstler:innen, Denker:innen, Autor:innen, meine Kolleg:innen im Team und Sie, das Publikum, die Sie immer im Bild sein werden.

[Sprechchor: The! Way! Out!]

Graz, 9.9.21, Ekaterina Degot

steirischer herbst ’20

24.9.–18.10.2020

„Wir sind dieses Jahr überall, und manchmal nicht dort, wo man uns erwartet“, schreibt Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot in der Paranoia TV-Programmzeitschrift. Der analoge Wegweiser durch den heurigen steirischen herbst ist ab Mitte September in der Paranoia TV Zentrale erhältlich. Mit einer Auflage von 390.000 Stück wird er außerdem der Kleinen Zeitung, den Salzburger Nachrichten, dem Standard und dem Falter unmittelbar vor der Festivaleröffnung österreichweit beigelegt. Einen Überblick über die größtenteils kostenfreien Veranstaltungen und facettenreichen Formate gibt es aber schon jetzt auf der von Paranoia TV gekaperten Website des steirischen herbst und unter www.paranoia-tv.com.

(Pressetext)

Dieses Jahr, das 53. des Festivals und das 9. meiner Berichte darüber, werde ich meist NICHT dort sein, wo man mich erwartet. Das Fortgehen fällt mir immer schwerer, die Eindrücke zu sammeln und niederzuschreiben wird immer mühsamer und Bild/Video/Text hier zu publizieren nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Irgendwann werde ich es ganz aufgeben müssen. Ich bezweifle, dass sich eine Nachfolgerin / ein Nachfolger findet, dem Gangway so wichtig werden könnte, dass er oder sie sich genau so viele Gedanken über das Kulturgeschehen macht, nämlich das, worüber ein Cult-Mag berichten sollte.

Oder fühlt sich eine Leserin / ein Leser angesprochen?

Sollte es hier also immer ruhiger werden, sind die zwei Seiten Kultur in der Tageszeitung offenbar ausreichend. Da könnte man sogar noch eine an den Sport abtreten. Nicht?

Gerald Ganglbauer
Stattegg, 31.08.2020

steirischer herbst ’19

Grand Hotel Abyss, 19. 9. bis 13. 10. 2019

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Festival-Pass
+43 316 816070

Das Guidebook liegt im Besucher*innen und Pressezentrum des steirischen herbst (Kaiser-Josef-Platz 4, 8010 Graz) auf und ist beim Kauf eines Festival-Passes inkludiert.

Grand Hotel Abyss – Eröffnungszeremonie im Landhaushof

Viele fragende Blicke: What the …

Grand Hotel Abyss – Extravaganza im Congress

Die Gäste strömten zahlreich ins Grand Hotel Abyss. Aber waren teure Schokolade, Puppenspieler am Balkon oder Transsexuelle die „Extravaganza“ des Abgrunds?

Manaraga – Diary of a Master Chef

Endlich eine großartige Performance von den beiden „Meisterköchen“ Mathias Lodd und Lukas Walcher in dieser Koproduktion mit dem Schauspielhaus Graz.

Und das wars dann auch für mich. Der –steirische herbst– wie wir ihn kennen und zu schätzen gelernt haben ist nicht mehr. Nicht ohne Ironie ist der Schriftzug durchgestrichen. An seiner Stelle haben wir einen „russischen herbst“ verordnet bekommen, der sich „Diskussionen über die Gegenwart und politische Vergangenheit“ mit einem aktiv reflektierenden Publikum wünscht.

Das ist kein „Festival“ mehr, auch wenn sich Ekaterina Degot in ihrer Pressekonferenz rühmt, dass sich 43,000 Menschen (Schulklassen mitgezählt) an den zahlreichen Ausstellungsorten getummelt haben sollen. Ob die auch wieder bei einer nächsten „konsequent und kompromisslos“ unveränderten Ausgabe (12. September bis 18. Oktober 2020) wieder kommen?

Wir müssen uns daran gewöhnen, schreibt Ute Baumhackl in der „Kleinen Zeitung“. Nein, müssen wir nicht. Es ist unser Geld, unser Festival, unser steirischer herbst.

Ekaterina Degot

Eröffnungsrede zum steirischen herbst ’18

Europaplatz Graz, 20.9.18

steirischer herbst
20.9.–14.10.18

Ekaterina Degot © steirischer herbst

Der Platz, auf dem wir uns heute versammeln, heißt Europaplatz. Manche von Ihnen wissen das vielleicht gar nicht, denn dies ist offenkundig und unverkennbar ein Bahnhofsplatz. Genau so hieß dieser Platz auch, bevor er 1972 voller Stolz zum Europaplatz aufgewertet wurde. 1972 war ein Jahr des Optimismus, denn in der Politik gab mit Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky ein starkes sozialdemokratisches Trio den Ton an. 1972 war ein gutes Jahr für das europäische Projekt.

Tatsächlich gibt es viele Europaplätze in Europa, die seltsamerweise oft an Bahnhöfen liegen, als befinde sich Europa stets anderswo und immer mindestens eine Zugreise weit entfernt. Nicht anders ist es in Berlin und Wien. Europaplätze sind in der Regel Nicht-Orte. Man kann ihren Namen kaum behalten und sie nicht einmal als Plätze im Gedächtnis bewahren. Sie sind Übergangszonen, Rundkurse der Migration, Rennbahnen für Aufbrechende und Neuankömmlinge, Heimat der Vertriebenen und von sich selbst Entrückten, sowie der Heimwehkranken und der Obdachlosen.

Als ich eingeladen wurde, den steirischen herbst zu leiten, und im vergangenen Jahr in dieser Funktion erstmals nach Graz kam, war ich mir schon im allerersten Augenblick sicher, dass das Festival nirgendwo anders beginnen kann als hier – im öffentlichen Raum und in einem Teil der Stadt, der einstweilen noch nicht zu ihrer bevorzugten Lage gehört. Ich wollte, dass wir den Anfang in diesem Durchgangsraum machen, dass wir uns versammeln, wo Einheimische und Außenseiter, Österreicherinnen und Österreicher und Fremde durcheinanderströmen und allesamt einer Unbeständigkeit anheimfallen, die für so manche ein Dauerzustand ist.

Während diese Rede in den vergangenen Tagen allmählich in meinem Kopf Gestalt annahm, suchte ich nach einem Anfang jedoch lange Zeit vergeblich. Ich fragte mich, wen ich eigentlich ansprechen wollte. Sollte ich mich an die „lieben Besucherinnen und Besucher des Festivals“, an meine „lieben Freunde und Kolleginnen“ oder gar an die „geschätzten Pressevertreter, Sponsorinnen und Unterstützer“ wenden? Sollte ich außerdem noch – oder stattdessen – versuchen, die Aufmerksamkeit zufälliger Passanten auf diesem Bahnhofsvorplatz zu gewinnen? Dieser Vorbeieilenden, die uns auf dem täglichen Weg von oder zu ihrem harten Tagwerk mitsamt ihrem schweren Gepäck anrempeln?

Sie erraten es schon: Mir geht es um diese Passanten. Denn auch wir selbst gehören schon zu ihnen und sind nicht mehr nur „liebe Besucherinnen“ oder „werte Gäste“, sobald wir uns dem Umzug der großartigen, furchtlosen Künstlergruppe Bread & Puppet Theater anschließen. Wir werden der mitreißenden Gewalt der Kunst erliegen und dem Vertrauen in unser eigenes besseres Selbst nachgeben, dem sich diese Gruppe verpflichtet weiß. Wir können nicht die „lieben Zuschauer“ sein und in dieser passiven Rolle verharren. Wir werden selbst zu einem Teil des Kunstwerks und verleihen ihm mit unserem eigenen Körper Gestalt.

Passantinnen und Passanten also. Aber wie soll ich diese, Sie, uns alle ansprechen? Doch nicht mit „Meine Damen und Herren“, und auch nicht als „liebe Freunde und Kolleginnen“, denn noch während ich das murmele, sind sie alle längst auf und davon.

Es gibt eine überall anerkannte Form der Ansprache, die mir in dieser Situation angemessen erscheint: „Verzeihung, dürfte ich Sie etwas fragen?“ – „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo die Straßenbahnhaltestelle ist?“ – „Verzeihung, interessieren Sie sich für zeitgenössische Kunst?“ – „Entschuldigung, sind Sie für Einwanderung oder dagegen?“ – „Gestatten Sie eine Frage: Horten Sie Nazi-Devotionalien in Ihrer Wohnung?“ – „Verzeihung, sind Sie einverstanden mit dem Spruch ‚Tod dem Faschismus, Freiheit für das Volk!‘?“ – „Entschuldigung, sind Sie für Conchita oder für Gabalier?“

Solche Fragen werden wir Ihnen im Verlauf dieses Festivals stellen. Also verzeihen Sie mir bitte, falls und dass ich Sie anspreche. Bekanntlich soll man heute schriftlich um Erlaubnis fragen, bevor man jemanden anruft. In diesem Sinn bitte ich hiermit um Ihre Erlaubnis, mich direkt an Sie zu wenden: jetzt und in den kommenden Jahren, in der aktuellen und in künftigen Ausgaben des steirischen herbst. Wir wollen mit Ihnen reden über das, was für uns alle von Bedeutung ist. Wir wollen Sie – und das ist Teil des Spiels – in die prekäre Lage bringen, sich vielleicht von uns gestört zu fühlen.

Zugegeben: Es kann sehr lästig sein, wenn man von jemandem angesprochen wird. Ich bin die erste, die ihre Ruhe braucht und in Frieden gelassen werden will. Mir ist auch klar, dass Kunst stören und manchmal unerfreulich sein kann. Aber genau so soll Kunst eigentlich sein. Sie sollte unsere Überzeugungen erschüttern und eine andere Sicht auf die Dinge unterbreiten. Sie sollte zerstörend Neues schaffen. Manchmal, wenn wir Glück haben, geht sie dabei so weit, dass unser Leben hinterher nicht mehr dasselbe ist.

Hier setzt der neue steirische herbst an. Er nennt sich Volksfronten und handelt von den politischen Widersprüchen und Gegensätzen unserer Zeit. Wir alle sind Tag für Tag und in jedem Augenblick darin verstrickt. Die Widersprüche und Gegensätze sind gesellschaftlicher Art. Sie haben mit Ungleichheit und vorenthaltenen Lebenschancen zu tun. Sie brüten und nähren die Würmer des Faschismus. Unterdessen geraten wir auf eine falsche Fährte. Man erzählt uns, dass es in diesen Gegensätzen und Kämpfen um Kulturen, Religionen oder Rassen gehe, dass sie den geschniegelten und gebügelten, überkommenen Identitäten unserer Vorfahren und ihrer angeblichen Unvereinbarkeit mit den geringfügig anders geschneiderten Identitäten gewisser anderer entspringen.

Das ist nicht wahr, und es hindert uns, gemeinsame Sache zu machen. Dieser Verhinderung wollen wir mit dem Begriff Volksfronten unter Einbeziehung des darin mitschwingenden Unbehagens entgegentreten. Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Nicht einfach sind die reichhaltigen, komplexen, vielschichtigen künstlerischen Gesten, die daran anknüpfen – die Projekte, Performances, Installationen und philosophischen Debatten. Wir hoffen, dass Sie sich Zeit für sie alle nehmen werden. Seien Sie mit uns in diesen drei leidenschaftlichen Wochen! Wir hoffen, uns in den kommenden Jahren mit Ihnen auf viele weitere geistige Wagnisse einzulassen.

Laibach’s Sound of Music

Foto: Laibach, Cover: Poster für Laibach’s Sound of Music, 2018, Design: Metastazis

Der steirische herbst slowenische herbst ’18 eröffnet Volksfronten mit Laibachs Version eines der weltweit erfolgreichsten Filme, den hierzulande keiner kennt. Aber morgen wird sich das geändert haben.

Morgen geht nämlich alle anders als sonst los: die Eröffnungsrede von Ekaterina Degot gibts um 17:00 am Europaplatz vor dem Grazer Hauptbahnhof. Danach zieht die Underneath the Above Parade #1 des Bread & Puppet Theater durch die Keplerstraße in die Innenstadt bis zum Mariahilferplatz. Bin neugierig, ob das barrierefrei mit dem Rollstuhl zu schaffen ist.

Der Eröffnungstag wird schließlich mit Laibach’s Sound of Music gekrönt. Beginn ist pünktlich um 21:00 auf der Kasemattenbühne. Hier ein Sound Sample, „Spectre“ (2014) auf Spotify.

Im Ausland bin ich immer wieder darauf angesprochen worden, also musste ich mir den Film natürlich selbst ansehen und bin sehr gespannt, wie Laibach ihn umsetzt. Brachial, kitschig und laut, nehme ich an.

Singen wir mit der Trapp Family „Climb every mountain …“

Stattegg-Ursprung, am 19. September 2019

Eröffnungstag steirischer herbst ’18

Laibachs Sound ist unverkennbar, deren politische Botschaft verschwommen

Wer sich auf den Weg machte, um etwas über „The Sound of Music“ in den Kasematten zu lernen, musste sich zwei Stunden später so klug wie zuvor an den Abstieg vom  Schlossberg machen. Vielleicht konnte man sich über den Film mit den zwei Erzählebenen, der Geschichte der Salzburger Familie Trapp und ihrer Flucht in die USA, sowie unterschwelligem Faschismus in Österreich auf der Party danach im Dom Im Berg mit den Musikern unterhalten, sofern sie ihn überhaupt gesehen hatten. Fakt ist: Laibach’s Sound of Music war bloss eine unterhaltsame Musikrevue, der ihre umstrittene Beschäftigung mit Heimat, Nationalsozialismus und Faschismus zugrunde gelegen hat, bevor sie eine Produktion für Korea als „zensurierte“ Auftragsarbeit für den steirischen herbst adaptierten und noch ein paar oberflächliche und unaufällige Referenzen zum „österreichischen“ Hollywood-Film hinterlegten.

Seit ich die Band vor mehr als zwanzig Jahren bei den Wiener Festwochen gesehen hatte, war die Fliegermütze Markenzeichen des Frontmannes mit der Grabesstimme. Bekannt wurden die Mannen aus Ljubljana mit einem Cover von „Live is Life“, dessen Video im Stil der Hitler-Jugend gedreht war. Meiner Meinung nach war ihr Umgang mit Relikten aus der Nazi-Ära oft ein Grenzgang. Allerdings es ist auch ein Privileg der Kunst, zu verunsichern. Hier waren sie alle nett gekleidet und das Zusammenspiel der Stimmen von Boris Benko und Marina Mårtensson klang überzeugend froh und ergänzte sich gut durch die tief eingeworfenen Laute von  Milan Fras. Irgendwann klang es abgelutscht, denn 90 Minuten wurden lang und es wurde zu kalt in den Kasematten. Das letzte Werk, „Also sprach Zarathustra“ (2016), konnte mich noch von der Retroavantgarde der Band überzeugen, diese seichte Revue nicht.

Es sagt ja auch niemand, dass die gestrige Aufführung zur Eröffnung des steirischen herbst ’18 samt Streichorchester und Kinderchor tatsächlich an eine Umsetzung der Handlung des Films gebunden war. Dieser Gedanke entsprang nur meiner Erwartungshaltung, weil ich im Ausland vielfach darauf angesprochen wurde und eine Auseinandersetzung der Inlandsösterreicher mit dem Thema überfällig war. Fakt ist, dass vor den musikalischen Szenen eine Präambel verlesen wurde, worin heftige Kritik an Österreichs blau-schwarzer Politik und somit an den Österreicherinnen und Österreichern geübt wurde, die sie gewählt haben. Das vorweg gesagte wurde zwar wieder entschärft, indem es der Philosoph Slavoj Žižek in seiner „Predikt“ als Fiktion ausgab, aber die klare politische Haltung änderte nicht einmal sein philosophischer Exkurs über die Liebe. Die bunten Visuals, von kitschigem Cliché bis militaristischer Ikonografie aus Korea passten farblich gut in die Kasemattenbühne. Ein letzte Referenz auf die Freilichtbühne der Salzburger Festspiele.

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Mit dem Rollstuhl zum Konzert zu gelangen, war eine andere Sache – eine Herausforderung der besonderen Art. Ein erster Versuch mit dem Auto auf den Berg zu fahren musste abgebrochen werden, weil die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt war. Der Lift war ebenso außer Betrieb. Ein Anlauf mit der Schlossbergbahn war schließlich erfolgreich. Die Bahn hat auf beiden Stationen einen Treppenlift und freundliches Personal. Von der Bahn bis zum Eingang ist der Weg für Rollstühle allerdings ein Wahnsinn. Die tiefen großen Kopfsteine mögen zwar gut aussehen, sind aber unüberwindbar, weshalb ich auf Krücken hüpfen musste. Wenn man selbst Betroffen ist, wird einem Barrierefreiheit plötzlich zu einem enorm wichtigen Begriff.

Stattegg-Ursprung, am 21. September 2019

steirischer herbst ’17

Updates >> 24. September >> 11. Oktober >> 14. Oktober

Die letzte Eröffnung

Where are we now? Die scheidende Intendantin Veronica Kaup-Hasler erinnerte in ihrer emotionalen Rede, dass der steirische herbst das älteste multidisziplinäre Festival für zeitgenössische Kunst in Europa sei und sich immer wieder neu erfinden müsse. Mit fünfzig Jahren am Buckel und dem 88-jährigen früheren Präsidenten Kurt Jungwirth anwesend kam ich mir auch schon sehr alt vor. Immerhin hat der steirische herbst seit dem Jahr 1977 mein Leben begleitet und damit sicher auch meine Offenheit für Neues und meine Liebe zur Avantgarde durch ein erweitertes Kulturverständnis mitgeformt. Obwohl es heute noch Menschen gibt, die unter dem steirischen herbst einfach den Herbst in der Steiermark verstehen, bin ich überzeugt, dass durch die unermüdliche Aufklärung des Festivals das seinerzeit kleinstädtische Bewußtsein der Einheimischen im Lauf der Jahre weltoffener geworden ist. Steter Tropfen höhlt den Stein.

Die nackte Performance

Die dänische Choreografin Mette Ingvartsen kannte ich bereits von 7 Pleasures, die ich vor zwei Jahren das Vergnügen hatte im Dom im Berg zu sehen. Mit to come (extended) landete sie eine gelungene Urauführung, einen vielstimmigen Orgasmus vor weitaus größerem Publikum. Die Anwesenden waren von der erotischen Körpersprache sichtlich begeistert, wenn auch ohne spontane Entkleidungen und Beteiligung am Tanz, die wohl so manchem in den Sinn gekommen war. Schade, dass man während der zweiteiligen blau/nackten Vorstellung nicht fotografieren durfte, Wer nicht dabei war und die Produktion dennoch unbedingt sehen will, muss eben nach Paris fliegen.

Das große Buffet

Als nach dem lange anhaltenden Applaus für die Tänzer ein schier endlos scheinendes Buffet langsam auf die Bühne gerollt wurde, war die Reaktion etwas zögerlich, doch dann ging es schnell, La Grande Bouffe war in der Tat ein opulent-sinnliches Angebot für den Gaumen, dem niemand widerstehen konnte. Beim darauf folgenden Abtanzen konnte man die Kalorien ohnedies wieder abbauen, sich mit den numehr bekleideten Tänzern aus aller Herren Länder unterhalten und nach Mitternacht guter Dinge nachhause fahren.

Stattegg, am 23. September 2017

Die nackte Performance II

Am nächsten Tag setzt sich das Nacktsein auf der Bühne fort. Ich frage mich, ob es in einer Zeit, in der die in den 60ern erkämpfte Freiheit von einem neuen Konservatismus langsam wieder überdeckt wird, der Kunst bedarf, an sexual liberation zu erinnern.

Simon Mayer – Oh Magic

In der Abgeschiedenheit des Dom im Berg ist diese Erinnerung großartig gelungen. Der Oberösterreicher Simon Mayer hat es im besten Sinn mit seinem choreografierten Konzert Oh Magic mit Clara Frühstück, Tobias Leibetseder und Patric Redl, sowie den von Manuel Wagner ferngesteuerten Robotern bewiesen. Die Premiere bot 70 Minuten lang Überraschungen, anfangs im verdunkelten Raum den zaghaft suchenden Scheinwerfer eines R2-D2 artigen Lichtroboters, die ruhige Melodie eines selbstspielenden Klaviers, einer Triangel, Rückkopplungen eines Mikrofonroboters im Zusammenspiel mit dem Erscheinen des Menschen mit Stimme, Atmung und rockigem Sound Design, bis hin zur schrittweisen Entkleidung, ekstatischer Besessenheit mit dem nackten Körper und an Wahnsinn grenzende Trommelrituale. Ich gebe zu, dass diese Subsummierung in einem Satz der erlebten Show in keiner Weise gerecht wird, aber vielleicht verirrt sich der eine oder andere Leser noch zum Talk nach der zweiten und letzten Aufführung am Sonntag.

Stattegg, am 24. September 2017

Die zwei Alten

Einmal gänzlich ohne nackte Haut kommt die berührende Dokumentation der belgischen Künstlergruppe Berlin vom (Über-)Leben von Nadia und Pétro Opanassovitch Lubenoc aus. Zwei 80-jährige, die sich weigerten, nach dem nuklearen Meltdown im 25 Km entfernten Tschernobyl das ukrainischen Dorf Zvizdal (so auch der Titel des Stücks) zu evakuieren, werden einfühlsam porträtiert.

Massstabgetreues Modell aus Zvizdal

Über einige Jahre hinweg wurden die beiden eigensinnigen Verweigerer jeglicher Vernunft besucht und gefilmt, wie sie ihren kontaminierten Heimatboden bestellen und abgeschnitten von der Welt ohne Strom und fließendes Wasser der Natur und den unsichtbaren Strahlen trotzen. Auch die Liebe zwischen den beiden früheren Nachbarn wuchs im Sperrgebiet. Das umfangreiche Filmmaterial bis zum Tod Pétros wurde in eine multimediale Aufführung eingebettet, die mich nachdenklich hinterließ, was im darauffolgenden Talk auch das Publikum zum Ausdruck gebracht hat.

Auf dem Heimweg sind mir Parallelen zu Marlen Haushofers Die Wand in den Sinn gekommen.

Nadja lebt im Internet weiter: berlinberlin.be/chernobyl code: leavingzvizdal

Stattegg, am 11. Oktober 2017


Die nackte Performance III

Auch Apollon Musagète, die „Freakshow“ von Florentina Holzinger, wollte ich mir anschauen, aber leider war das wegen einer Terminkollision mit dem Jazz Festival Leibnitz nicht möglich gewesen. War sehr gut, wie man mir berichtet hat.

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Apollon Musagète | Foto ©2017 Radovan Dranga

Eine Gelegenheit, wieder einmal meinem Bedauern Ausdruck zu verleihen, dass ein Großteil der Produktionen viel zu kurz, nämlich meist nur zweimal, auf die Bühne kommt. Einem Besucher mit durchschnittlicher Freizeit ist es dadurch kaum möglich, sich alles anzusehen. Die herbst-Statistik gefällig? An 24 Festivaltagen gab es 137 Projekte und 451 Einzelveranstaltungen, das ist genauso wenig machbar, wie alle Bücherneuerscheinungen des Herbstes zu lesen.

Where Are We Now?

In der „Philosophierkantine“ des steirischen herbst werden bei einem Glas Wein und Speisen aus der Bar Gedanken weitergesponnen. Aber erst einmal wurde in eigener Sache das herbst-Buch vorgestellt.

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Buchpräsentation: 50 Antworten auf die Frage „Where Are We Now?“

Vorträge wurden als Diskussionsgrundlage serviert: Mangelnder Zugang zum Weltkulturerbe wurde von einer Kuratorin bedauert, Weltreligionen in einem Filmbeitrag angesprochen und heftig diskutiert, danach kam eines meiner Lieblingsthemen und ein süßes Dessert auf den Tisch: „Poly“ (Polyamory), ein Thema, das an unserem Tisch für angeregte Gespräche sorgte. Um Trading in einem Eisbrecher ging es im letzten Vortrag des Abends, aber da sich die Uhrzeiger gegen Mitternacht bewegten, hatten sich die Tische schon weitgehend gelichtet. Gute Nacht.

Pursuit of Happiness

Mit meinem letzten Gig im 50. steirischen herbst schließt sich der Kreis. Nature Theater of Oklahoma und die slowenische EnKnapGroup inszenieren in der Grazer Helmut List Halle ihre Suche nach dem Glück: „Pursuit of Happiness“. Das zweiteilige Stück trug ganz eindeutig die Handschrift der New Yorker. Im ersten Teil die Saloon-Szenen, Whiskey an der Bar, Finger am Abzug der Colts, Raufereien und ausgeschlagene Zähne, danach der überlange Monolog des Künstlers. Ich erinnerte mich an Life and Times – Episode VI, auch hier wieder die betont künstlichen Bewegungen, die extrem artikulierte Sprache, den persiflierten Akzent der Südstaaten und die großartige Darstellung der Tanzgruppe, für die der hohe Textanteil auch etwas Neues war, wie wir im anschließenden Talk erfuhren. Bleibt zu hoffen, dass die acht Slowenen (zwei Mitglieder der Gruppe waren nicht in dieser Produktion) auch mit eigenen Shows nach Graz kommen.

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Abschied von Pavel und Kelly, die in Neuberg an der Mürz noch den Dreh von Die Kinder der Toten fertigstellen, und von Veronica, deren Nachfolge  Ekaterina Degot antreten wird. Ich bin schon gespannt auf den 51. steirischen herbst (und den Ausgang der morgigen Nationalratswahl).

Stattegg, am 14. Oktober 2017

Nature Theater of Oklahoma

Der steirische herbst ist kein Durchlauferhitzer, wo jedes Jahr andere Künstler durchs Dorf getrieben werden. (Martin Baasch, Leitender Dramaturg)

Das Ehepaar Kelly Copper und Pavol Liska, besser bekannt unter dem Namen Nature Theater of Oklahoma, ist wieder im Lande. Nach zahlreichen Episoden von Life and Times, die als Co-Produktionen mit dem steirischen herbst aufgeführt wurden, hat die scheidende Intendantin Veronica Kaup-Hasler die beiden noch einmal in die Steiermark geholt, um Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ mit ausgewählten Laiendarstellern und Beteiligung der gesamten Bevölkerung auf Super 8 zu filmen. Die Filmarbeit an sich, die an Originalschauplätzen in der Obersteiermark über vier Wochen im September/Oktober stattfinden wird, ist das eigentliche Kunstwerk. Mit etwas Glück könnte der Film sogar in die Kinos kommen.

Wer frühere Arbeiten der Künstler kennt, wird wissen, dass die freie Adaption von Jelineks Roman wieder sehr provozierend ausfallen wird, wobei Sex, Gewalt und Nationalsozialismus in dem Genre Horrorfilm nicht zu kurz kommen werden.

Für diejenigen Leser, die noch nicht in die Welt des Nature Theater of Oklahoma verführt worden sind, ein kleiner Vorgeschmack aus ihrer letzten Produktion in Köln, „Deutschland 2071“.

Und das liest man im eben online gegangenen Programm des steirischen herbst:
Das Nature Theater of Oklahoma wagt heuer außerdem das Unmögliche: Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat ihr, in ihren eigenen Worten, wichtigstes Werk freigegeben für eine filmisch-performative Inszenierung durch das amerikanische Performance-Kollektiv. „Die Kinder der Toten“ – ein „Gespensterroman“, über 666 unheimliche Seiten gehende, phasenweise hochkomische, dann wieder beklemmende sprachliche und geschichtskritische Herausforderung. Nach zweijähriger Vorbereitungszeit mündet die Auseinandersetzung mit diesem Koloss an Sprache heuer in eines der bislang größten Projekte des Festivals: „Die Kinder der Toten“ wird vielstimmig und multimedial an seinen Ursprung zurückgeführt – nach Neuberg an der Mürz zwischen Mürzzuschlag und Mariazell.

 

An den Originalschauplätzen werden Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma öffentliche Dreharbeiten zu einer freien filmischen Adaption des Romans inszenieren. Zusätzlich entsteht ein Basislager mit zahlreichen Begleitveranstaltungen – hier werden Mitwirkende auf die Drehs vorbereitet; hier stürzen wir uns in eine 144-stündige Dauerlesung von „Die Kinder der Toten“; hier starten geführte Touren zu den Schauplätzen des Romans und befeuert das „Cinema 666“ sein Publikum.

Apropos Publikum, bevor ich vergesse es zu erwähnen, ich war beim Casting und habe eine Rolle als „Syrer“ bekommen. Wow, ich werde ein Filmstar … sicher nicht der späte Beginn einer Hollywood-Karriere, aber man darf gespannt sein!

Info +43 316 816 070, info@steirischerherbst.at, www.steirischerherbst.at