steirischer herbst ’16

Vom 23. September bis 16. Oktober 2016 krempelt sich der steirische herbst die Ärmel hoch:“ Wir schaffen das.” Die diesjährige Eröffnungsproduktion entführt in die Traumwelten des französischen Theaterzauberers Philippe Quesne. Für den steirischen herbst gräbt er sich unter die Erdoberfläche und stößt dort auf eine skurrile Gesellschaft.

steirischer herbst festival gmbh
Sackstraße 17
8010 Graz Austria
t +43 316 823 007
f +43 316 823 007 77
info@steirischerherbst.at

Wir schaffen das.
Über die Verschiebung kultureller Kartografien
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Kultur soll leistbarer werden mit den neuen herbst-Blocks | Grafik © steirischer herbst

Das diesjährige Motto könnte sich sogar auf mein neues Buch beziehen, habe ich doch mit meiner Geografie der Liebe immer schon kulturelle Grenzen verschoben. Wen das plakative “Wir schaffen das” hierzulande wozu motivieren soll, werden wir am 23. September auch nicht herausfinden. Behauptet hat es Angela Merkel, wobei Ähnlichkeiten mit Slogans von Bob the Builder und Barack Obama rein zufällig sind, wie ich annehme.

Heuer wird das Kulturangebot des steirischen herbst für jedermann erschwinglich mit den neuen herbst-Blocks: bis zu 56% des Ticketpreises sparen, herbst-Blocks (ab € 70 für den ermäßigten 6er) ab sofort online kaufen und einlösen. Das gesamte Programm gibt es auf www.steirischerherbst.at zu sehen. Wir werden von der Eröffnung berichten, Fotos vom musikprotokoll posten und hier mit einem Rückblick abschließen.

Buchungshotline +43 (0)1 96 0 96 (zum Ortstarif)
Öffnungszeiten: Mo – So: 09:00 – 21:00 Uhr
Sommeröffnungszeiten Juli & August: Mo – So: 09:00 – 20:00 Uhr

Stattegg-Ursprung, am 30. Juli 2016

Eröffnung

Über die herbst-Eröffnung kann ich nichts berichten, da ich zu dem Zeitpunkt in Portland, Oregon (USA) eine Präsentation meines virtuellen Selbsthilfe-Modells am 4th World Parkinson Congress machte und erst am 26.9. wieder in Graz landete. Es sei gut gelaufen, höre ich, beim Fest in der Helmut List Halle tummelten sich wie immer viele Leute. Das herbstliche Gesichtsbad ist für heimische Kulturschaffende schließlich ein Pflichttermin.

Apichatpong Weerasethakul (TH)
Cemetery of Splendour / Fever Room

Apichatpong Weerasethakul am Eröffnungsabend der Viennale 2010 im Wiener Gartenbaukino | Foto: © Manfred Werner

Mittwoch tauche ich ein: Der steirische herbst zeigt den neuen Film des thailändischen Regisseurs Apichatpong “Joe” Weerasethakul, ein sanftes Meisterwerk von traumwandlerischer Magie, das ganz hervorragend zu meinem Jetlag passt. Ich frage mich nur, welche Absicht dahinter stand, nach der Filmvorführung zwei selbstgefällige (weil eine Beteiligung aus dem Publikum ignorierende) vormalige Standard-Köpfe, nämlich Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum) und Claus Philipp (Wiener Stadtkino) auf die Bühne zu setzen, und als Experten die “aus dem Kino kommen”, über einen Regisseur zu reden, der weit genug weg ist, um sich der Peinlichkeit nicht auszusetzen, wie marktschreierisch die beiden ihr 2009 erschienenes mittlerweile vergriffenes Buch über “Joe” oder gar “Joey” nun als PDF (!) auf einer DVD (!) bewerben. Und um den TALK nicht gänzlich zum Marketing-Spin absinken zu lassen, projiziert man den Film in sehr kleinem Rahmen (Orpheum Extra), so dass die Karten innerhalb der herbst-Fangemeinde schon ausverkauft waren, lange bevor die Show über die Bühne ging und das gemeine Volk überhaupt eine Chance hatte, sich etwas anzuschauen. Man fragt sich, ob der steirische herbst nun ein elitäres Programmkino geworden sei. Doch dafür war der Raum zu kalt und das Sitzen zu unbequem, auch wenn die Intendantin in der Pause auf lauwarme Drinks einlud.

Talk mit Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum) und Claus Philipp (Wiener Stadtkino) | Foto: © Gerald Ganglbauer

Zwei Tage später, Freitag: Fever Room. Vor dem Orpheum sind kaum Leute, ich sehe Gerhard Melzer und wir wundern uns über die wenigen Besucher des “ausverkauften” Zwillingswerkes von Apichatpong Weerasethakul. Drinnen sind wir gezwungen, am nackten Boden zu sitzen. In Südost-Asien ist das wohl so üblich, hier bezweckte die Unbequemlichkeit vermutlich, nicht aus Langeweile einzuschlafen. Einmal, und noch einmal werden uns Orte und Gegenstände aufgezählt, bezeichnet, aus der Erinnerung an Träume. Jen und Itt, die schlafenden “Hauptdarsteller” in beiden Filmen teilen sich ihre Träume. Der Mekong Fluss, eine Höhle, und – als Sohn zweier Ärzte – immer wieder Szenen aus dem Krankenhaus. Nun statt auf einem auf vier Screens, fast bis zum Stillstand verlangsamt. Auch hier Schlafattacken. Der thailändische Heimatfilm ohne Handlung ist durch die Vervielfachung nicht weniger langatmig, trotz teils schöner visueller Eindrücke, die sowohl den politischen Aspekt in einem unter der Militärdiktatur zerfallenden Land einbeziehen, als auch die Umweltverschmutzung. Aber im Westen sitzt man auf Stühlen und glaubt nicht an Geister, auch wenn sie sich im zweiten Teil der “Installation” mit Laserlicht und Weihrauch dem Publikum präsentierten. Keine Warnung, dass man mit ungeschützten Augen nicht in den Laser schauen dürfe, und so erwachte ich heute mit brennenden Augen, weil das weiße Licht uns immer und immer wieder viel zu lange direkt in die Pupillen strahlte.

Lasershow aus “Fever Room” | Foto: © Chai Siris / Kick the Machine Films

Der 46-jährige Apichatpong Weerasethakul aus Bangkok, der 2010 als erster thailändischer Filmemacher die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes erhielt, sagt in einem französischen Interview, dass er es mag, wenn das Publikum “im Dunkeln sitzt wie Zombies”. Er will, dass wir uns unterordnen. Ich vermute, dass Europäer diese filmische Auseinandersetzung mit Thailands Geistern bestenfalls als “interessant” bezeichnen, obwohl Matthias Dell im SPIEGEL ONLINE begeistert scheint. Aber wenn es uns hier interessiert, wäre es in einem Südost-Asien Schwerpunkt im KIZ Programmkino besser aufgehoben, ohne dass sich das Publikum als “Oberfläche, auf die ein Licht projiziert wird” unterordnen muss.

Stattegg-Ursprung, am 30. September 2016

musikprotokoll

Das musikprotokoll war anfangs noch schwach besucht, erst Blixa Bargeld füllte den Dom im Berg | Fotos: © Gerald Ganglbauer

Blixa Bargeld
Kommod vs. Schiach

Wenn auch schon etwas gerundet (wie viele in unserem Alter) so ist Blixa Bargeld auch im schwarzen Anzug immer noch ein bunter Vogel. Er kann sogar kreischen wie ein Sulphur-crested cockatoo. Das muss er mit Nick Cave im australischen Outback gelernt haben. Wie auch immer, der Mann, der die Einstürzenden Neubauten oder Nick Cave and The Bad Seeds in seiner Biografie hat, ist auch (fast) solo eine imposante Erscheinung. Ich habe zwar ein oder zwei Alben der Neubauten am Mobiltelefon und höre ab und zu auf YouTube auch neuere Sachen, hatte das Material dieser One-Man-Show aber nicht gekannt. Daher war ich umso mehr beeindruckt, was man mit einer Stimme, zwei Loop-Recordern und einem guten Tontechniker an schrägen Klängen und mitreissenden Rhythmen live auf der Bühne zusammenbasteln kann. Kreative Ideen vorausgesetzt, wie z.B. das Sonnensystem akustisch nachzubauen, dabei das Publikum in eine unendliche Tonschleife einzubauen (und über Unendlichkeit zu philosophieren) oder spontan aus dem Publikum zugeworfene Worte – wir einigten uns nach einiger Diskussion auf Kommod und Schiach – in einem Duell zu verarbeiten. Das waren knappe eineinhalb Stunden bester Unterhaltungsqualität, die es wert waren darauf zu warten. Die beiden vorangegangenen Klangkünstler habe ich größtenteils mit einer jungen Dame in einem Seitenstollen des Schlossbergs vertratscht. Und ich erreichte laufend (und keuchend) auch gerade noch die vorletzte Straßenbahn nach Andritz.

ORF Radio-Symphonieorchester Wien & Klangforum Wien
Größe macht doch was aus

Unter der Leitung von Johannes Kalitzke war eine Urauffführung der besonderen Art in Graz zu erleben. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien vereinte sich mit dem Klangforum Wien zu einem fast 100-köpfig anmutenden Klangkörper für die Werke der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu (im Bild rechts unten) und des Slowenen Vito Zuraj. Zeitgenössische/neue Musik gehört nicht zu meiner täglichen Beschallung, aber hin und wieder kann sie auch mich durchaus entzücken. Ungewöhnliche Besetzungen wie in einer Komposition für drei Mundstücke (links oben) bis zum unisonen Klang aller nur denkbaren Instrumente in oft nicht vorgesehenem Einsatz ebendieser gehört zu den seltenen “ganzkörperlichen” Hörerlebnissen, die einen von FM4 zu Ö1 wechseln lassen. Noch besser war es allerdings, dieses “Concerto Grosso” live zu erfahren.

ORF Radio-Symphonieorchester Wien & Klangforum Wien in der Helmut List Halle | Fotos: © Gerald Ganglbauer

Stattegg-Ursprung, am 7. Oktober 2016

Exkurs zur Geografie der Liebe

Der dritte Tag musikprotokoll fiel für mich verständlicherweise aus, da ich an jenem Abend eine eigene Lesung/Buchpräsentation/Talk aus meinem neuen Buch Geografie der Liebe im passenden Ambiente des KunstGartens hatte. Volles Haus, gute Stimmung, aber die Journalisten waren wohl alle beim steirischen herbst.

Intime “Wohnzimmer-Atmosphäre” im KunstGarten Graz | Foto: © Irmi Horn

Stattegg-Ursprung, am 10. Oktober 2016

Die Bilanz

Der steirische herbst 2016, der dem Leitmotiv “Wir schaffen das. Über die Verschiebung kultureller Kartografien” folgte, ist zu Ende. Die Intendantin zog wiederum Bilanz, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Dampf raus war. Kann man sich wirklich 50 Jahre lang der Avantgarde widmen und sich immer wieder neu erfinden? OK, ich habe heuer den Anfang wegen einer Terminkollision mit einem Kongress in Portland und das Ende wegen eines Festivals in Leibnitz nicht gesehen, aber dazwischen war nicht wirklich viel, wie mir schien, und nichts das mich vom Stockerl gehaut hätte wie so manches in den Jahren zuvor. Ja haben sie es denn geschafft? Was wollten sie überhaupt schaffen? Wer wollte es schaffen? Wir als Menschheit, Europäer, Österreicher, Kulturschaffende, Künstler, oder nur als Publikum?

Daraufhin habe ich mich auf der Straße umgehört und das Ergebnis meiner improvisierten Umfrage hat selbst mich überrascht. Obwohl der steirische herbst bald 50 wird gibt es Grazer, die noch nie vom steirischen herbst gehört hatten, bzw. dachten, dass es sich dabei um die Jahreszeit Herbst in der Steiermark handle. Dann gab es jene, die zwar davon gehört hatten aber nicht wussten, dass er gerade über die Bühne ging, geschweige denn, was das heurige Leitmotiv meinte. Den Poststempel habe man zwar auf Bussen und in Schaufenstern gesehen, aber da er seit Jahren gleich aussieht, nicht beachtet. In der Firma steirischer herbst festival gmbh sollten schon die Warnlampen aufleuchten.

Die vorläufige Bilanz: An 24 Festivaltagen gab es 130 Projekte und 465 Einzelveranstaltungen. Mehr als 50.000 Besucherinnen und Besucher (diese Zahl stagniert seit Jahren) zählte das Festival, nicht zugerechnet seien dabei die Projekte, die im öffentlichen und medialen Raum stattgefunden haben. Man freute sich zwar auch über die Auslastung von über 90% bei den szenischen Produktionen und Konzerten, aber im Vorjahr waren es noch 95%. Etwa 900 Beteiligte aus insgesamt 56 Nationen waren involviert.

Stattegg-Ursprung, am 16. Oktober 2016

Klanghaus Untergreith

Das südsteirische Untergreith ist kein bekannter Ort in der heimischen Topografie, aber ein Haus entbietet dort etwas ganz Besonderes. Die Klänge der vier Jahreszeiten (nicht nur jene der Weingläser) ertönen im klang.haus der Mia Zabelka. Dort treffen sich Klangkünstler aller Herren Länder mit einheimischen wie auch weit angereisten Gästen zum Ohrenschmaus. Alles ist am Menü, von “unplugged” instrumental und vokal, bis zum synthetischen Cocktail aus der Steckdose.

Winter im Klanghaus Untergreith

Die Geigerin und Komponistin Mia Zabelka (1963 in Wien geboren) lädt viermal im Jahr in ihr Klanghaus, um die Töne der Jahreszeiten zu feiern. Und international arrivierte Klangkünstler folgten gerne ihrer Einladung zum Klangfest Winter. Der französische Improvisationsmusiker Pascal Marzan eröffnete die Saison mit der Gitarre, im Anschluss kolaborierte der britische Soundkünstler Simon Whetham mit Zahra Mani am MacBook Pro.

Nach einer kulinarischen Pause präsentierten die französische Saxophonistin Audrey Lauro und Gastgeberin Mia Zabelka ihr Duo Projekt „Me, Myself and I“. Der amerikanische Elektronikmusiker Kim Cascone sandte einen eigens geschriebenen Klangteppich, der im dunklen Raum zu Gehör gebracht wurde und abgeschlossen wurde der Abend in einer improvisierten Jam-Session.

Jam-Session der Klangkünstler im Klanghaus Untergreith © Gerald Ganglbauer 2014
Da man Klangkunst aber am besten selbst hört, ein kleines Medley aus live Mitschnitten vom Winternachtklang.

PS.: Die jüngsten Tonträger von Mia Zabelka, “M” (2011, solo) und “Medusa’s Bed” (2013, mit Lydia Lunch und Zahra Mani) entbieten vollkommene Ablenkung vom gewohnten Hörerlebnis und lassen im Kopfhörer die Geräuschkulisse unseres Alltags für jeweils eine Stunde vergessen.
Tunes wie Körperklangmaschine und Mystical Psychosis sind durchaus für sehr konkrete Gefühlswelten geeignet, die Lyrics in Defiant und Bloodlust & Oblivion sind einfach genial. 8,99 (M) bzw. 9,99 € (Medusa’s Bed).

Klanghaus Untergreithwww.klang-haus.at

Untergreith und Ursprung, am 9. Februar 2014